Duft der Stille

Young Adult, Liebesroman, All Age

Ihr Duft macht seine Welt bunt

 

Laura hat das Gefühl, ständig für all das kämpfen zu müssen, was für andere Sechzehnjährige selbstverständlich ist. Nur ihr "Schutzengel", Kindheitsfreund Jacob, schenkt ihr Gelassenheit. Der stille Junge steht Tag für Tag eine Stunde an ihrem Zaun - ein Ritual, das genauso zu seinem Leben gehört wie zu ihrem. Und doch hat Jacob noch nie etwas zu ihr gesagt, denn er ist taubstumm.

 

Als Laura sich mit Dennis anfreundet, hofft sie, durch ihn mehr Freiheit zu erleben. Doch schon nach kurzer Zeit fühlt sie sich von ihm noch mehr eingeengt als von ihrer überfürsorglichen Mutter. In ihrem Kummer nähert Laura sich Jacob an, und jetzt, wo sie ihn besser kennenlernt, beginnt sie zu ahnen, dass er ein Geheimnis verbirgt, hinter dem viel mehr steckt als seine Gehörlosigkeit. Doch wie soll Jacob ihr zeigen, wie seine Welt ist, wenn er in der absolu­ten Stille zu Hause ist, zu der Laura so wenig Zugang hat?

 

Leserstimmen:

"(...) ein sehr intensives Buch, das unter die Haut geht." (Monika Fuchs, Thalia)

"Intensiv, gefühlvoll, emotional - und gleichzeitig so lebensnah und so realistisch." (Flavia Maltritz)

"Ein Buch, das neben der Seele auch die Sinne berührt." (Yvonne Sartoris)

 

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Thalia

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Artikel in der Saarbrücker Zeitung vom 04.06.2018, mit freundlicher Erlaubnis der Journalistin Carolin Merkel (Text und Foto) und der Redaktion.

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Leseprobe "Duft der Stille"

Die Neigungen des Herzens sind geteilt

wie die Äste einer Zeder.

Verliert der Baum einen starken Ast,

so wird er leiden, aber er stirbt nicht.

Er wird all seine Lebenskraft in den

nächsten Ast fließen lassen,

auf dass dieser wachse und

die Lücke ausfülle.

 

Khalil Gibran 

1 - Juli 2012

 

Jacob

Jacob stand an Lauras Zaun und wartete. Er blickte zu ihrem Fens­ter hinauf, und er würde nicht weggehen, bevor sie ihm ein Zeichen gegeben hatte. Wie jeden Tag. Er brauchte die Gewissheit, dass sie es wusste. Dass er ihr nicht gleichgültig war.

Warum dieses Mädchen ihn so sehr anzog, konnte er nicht sagen. Warum stach Laura aus der gesichtslosen Masse der Men­schen heraus? Der Menschen, deren Münder sich ohne Unterlass bewegten und zu Fratzen verzogen, wenn sie mit ihm reden woll­ten. Er brauchte nur den Kopf wegzudrehen, und all ihre Worte ver­hallten ungehört.

Warum griff jedes Mal eine unbestimmte Angst nach ihm, wenn er am Zaun stand? Die Angst, sie könne ihn vergessen haben oder sich nicht darum scheren, dass er auf ihren Anblick wartete? Die Angst, ihr könne etwas zugestoßen sein? Oder die Angst, sie könne ihn fortjagen wollen? Unverwandt starrte er zu ihr hinauf und hoffte auf ein Lebenszeichen. Manchmal erschien sie dort oben am Fens­ter, manchmal auch am Küchen- oder Wohnzimmerfenster. Gele­gentlich kam sie in den Garten heraus, weil sie dort etwas zu erledi­gen hatte. Nie vergaß sie, sich zu ihm umzudrehen. Meist wechsel­ten sie einen langen Blick. Sie gab ihm irgendein Zeichen und er spürte, wie die Ruhe seinen Körper durchfloss.

Was, wenn er sich das alles nur einbildete und sie nichts davon ahnte? In seiner Brust ballte sich etwas zusammen und ließ ihn nur noch oberflächlich atmen. Wie lange stand er nun schon hier?

Doch da erschien sie endlich! Laura hob hinter dem Fenster den Arm, um ihm zuzuwinken. Der Klumpen, der sich in seiner Brust zusammengezogen hatte, löste sich auf. Laura hatte nach ihm gesucht, ihn gefunden und sich wieder weggedreht.

Jacob wandte sich um und setzte einen Fuß vor den anderen. Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich ein Radfahrer neben ihm auf. Der gestikulierte wild – vermutlich hatte er geklingelt oder gerufen, doch wie hätte Jacob das wissen sollen? Komischerweise hatte er den Radfahrer aber auch nicht gerochen. War er so unaufmerksam, oder beherrschte Lauras unverwechselbarer Geruch noch seine Wahrnehmung? Der Junge gelangte unfallfrei an ihm vorbei und drehte sich auch nicht mehr um.

Langsam schwächte Lauras Duftspur sich ab, und die Gerüche der Umwelt traten wieder hervor. Es waren nur wenige Autos unter­wegs. Die Welt schien an diesem heißen Sommertag träge vor sich hin zu träumen. Die Hitze wirkte sich auf die Gerüche aus, die die Dinge, Pflanzen und Menschen verströmten.

Wenn Jacob die Augen schloss, konnte er genau sagen, wo die Welt im Schatten lag und wo sie von der Sonne überflutet war. Der Asphalt roch in der Sonne intensiver als an Wintertagen, wenn er kalt oder nass oder beides war. Das Gras in den Gärten sandte ein Bild in seinen Kopf: wie es in der Hitze verdorrte, obwohl es noch grün und saftig wirkte. Der Vorgarten der Villa am Ende der Straße lag hingegen zum großen Teil im tiefen Schatten. Dort liefen außer­dem ununterbrochen die Rasensprenger. Jacob konnte die Feuchtig­keit in der Luft riechen. Er sah, wie die Fontänen in regelmäßigen Stößen aus der Düse schossen, und erkannte das in winzigen Regenbögen gebrochene Sonnenlicht darin. In seinem Kopf bildete sich die Vorstellung davon, wie der Sprenger zisch-zisch-zisch machte. Doch er hörte nicht, wie die Tropfen auf die Blätter pras­selten oder im weichen Gras fast geräuschlos versickerten. Sein Begreifen von Wörtern, die Geräusche beschreiben, beschränkte sich auf das, was er spürte, sah und roch.

Der süßherbe Geruch der Linde drängte sich jetzt in den Vorder­grund. Er war zu Hause. Jacob öffnete das Gatter des kleinen Zauns – seine Oma hatte ihm noch gestern gesagt, dass es quietschte – und zog den Schlüssel aus der Hosentasche, während er zur Haustür ging. Er drückte einmal kurz auf die Klingel, damit Oma wusste, dass er kam, dann trat er auch schon ein.

Im Flur roch es ein bisschen muffig, weil die Großeltern wegen der Schwüle erst abends lüfteten, und im Keller hing Wäsche zum Trocknen. Unter dem künstlichen Blumenduft des Waschmittels fil­terte seine Nase unverkennbar den Mief der überschüssigen Feuch­tigkeit heraus. Zielstrebig ging er hinunter, öffnete das kleine Ober­licht, bevor er die Kleider betastete, um zu sehen, wie feucht sie noch waren. Obwohl er sich an dem leicht muffigen Geruch störte, hatte er längst akzeptiert, dass Oma die Wäsche im Sommer nicht nach draußen hängte. Vielleicht tat sie es, weil sie sich nicht von der Tageszeit vorschreiben lassen wollte, wann sie Kleidung zu waschen und zu trocknen hatte. So war seine Oma. Sie machte Dinge anders als viele andere Menschen. Er liebte sie dafür.

Sie stand schon oben und redete los, sobald sie ihn sah. Ihr Mund lag im Schatten. Mit Gesten sagte er ihr, dass er sie nicht hör­te, und sie schlug sich lachend die Hand auf die Lippen, bis er oben ankam. Dann gebärdete sie, dass es die ganze Zeit draußen viel zu heiß und schwül gewesen sei, um das Fenster zu öffnen. Aus der Gebärde heraus hob sie die Hand und wuschelte ihm durchs Haar, bevor er die oberste Stufe erklommen hatte. Mit Lippenbewegun­gen sagte sie: »Das hier kann ich ja nicht mehr oft machen, du bist mir schon lange über den Kopf gewachsen.«

Das Mundbild von Oma kannte er so gut, dass er nicht mehr viel hineininterpretieren musste, sondern die meisten der Wörter identi­fizierte. Er zog die Brauen zusammen und gebärdete, dass sie auf­hören solle. Er wollte nicht wie ein kleines Kind behandelt werden. Oma nickte und schlurfte zum Wohnzimmer. Vermutlich lief dort der Fernseher. Jacob stand zu weit weg, um ihn zu spüren. Er zog sich nach oben zurück.

In seinem Zimmer ging er zum Giebelfenster und blickte zu Lauras Haus hinüber. Manchmal, wenn sie Licht anhatte, konnte er von hier aus noch sehen, ob sie in ihrem Zimmer war oder nicht. Er bildete sich ein, dass sie jeden Abend, wenn sie ihren Vorhang vor­zog, noch einmal zu ihm herschaute. Sicher konnte er sich aller­dings nicht sein. Jacob bemerkte, dass Wolken aufgezogen waren, und als er das Fenster öffnete, roch er den Wechsel in der Atmo­sphäre sofort. Er schloss die Augen, um den Duft der sich abküh­lenden Luft einzusaugen. Innerlich sah er, wie sich Gewitterwolken auftürmten, schwere Regentropfen herunterplatschten und auf dem Boden zersprangen. Zu jeder Art des Regens hatte er ein Geruchs­bild. Doch noch war es nicht so weit. Ob das Gewitter wirklich bis hierherziehen würde, verrieten ihm seine Sinne nicht.

Die Vorstellungsbilder vor seinem inneren Auge stoben unver­mittelt auseinander, als Lauras Gesicht sich herausschälte. Er öffne­te die Augen. Sie erschien auf der Treppe, er roch ihren Körper in dem Sommerkleid, das sie gestern schon getragen hatte und das ein bisschen nach ihrem Schweiß roch. Darunter musste sie jetzt ihren Badeanzug angezogen haben. In Flipflops verließ sie das Haus und ging den Gartenpfad entlang. Er roch, wie sie die nackten Füße in den Gummilatschen aufsetzte. Die Geruchsimpulse – schwitzende Füße, abwechselnd in der Luft, dann wieder auf das Gummi tref­fend – sandten das erlernte Wortbild dazu in seinen Kopf: flip-flap-flip-flap. Sie trug ihre Schwimmtasche über der Schulter und eilte in die andere Richtung davon. Sie ging zur Schwimmhalle, die dem Schulkomplex angegliedert war. Abends war dort wenig Betrieb, und sie zog ihre Bahnen zwischen den anderen, die nicht zum Plan­schen, sondern zum Schwimmen gekommen waren.

Jacob hatte sie ein einziges Mal beobachtet. Das mochte zwei Jahre her sein. Wenn sie schwamm, wirkte ihr Körper graziler. Der Badeanzug umspannte ihre Brüste, die für eine Schwimmerin sogar damals schon zu groß waren. Ihr Stil sah nicht aus, als wolle sie Wettbewerbe bestreiten, sondern sich einfach nur entspannen. Jacob hatte an jenem Abend lang darüber nachgedacht, ob er zu ihr in die Halle gehen sollte, aber als sie nach draußen kam, hatte sie bei sei­nem Anblick die Stirn gerunzelt. Ihm war sofort klar gewesen, dass das Schwimmen ihr wichtig war und sie es nicht teilen wollte. Seit­her war er nicht mehr hingegangen. Heute bekam er heiße Wangen, wenn er darüber nachdachte, wie er damals auf sie gewirkt haben musste. Es wäre schrecklich für ihn, wenn sie ihn für einen Stalker hielte.

Plötzlich erreichte ihn Lärm. Oma rief nach ihm. Er spürte die stakkatohaften Erschütterungen in den Fußsohlen. Sie hatten sich vor Jahren darauf geeinigt, dass Oma und Opa, wenn sie ihn rufen wollten, mit Opas altem Wanderstock gegen das Holzgeländer schlagen würden. Dreimal schnell hintereinander, dann zweimal langsam, dann wieder viermal schnell. Jacob hatte damals rasch ein Gespür für die Vibrationen entwickelt. Natürlich sah das Geländer an der Stelle, an der sie nach ihm riefen, inzwischen sehr mitge­nommen aus, und auch der Stock war dort, wo er auftraf, nur noch halb so dick. Das störte keinen der drei. In letzter Zeit waren Opa und Oma dazu übergegangen, immer öfter mit dem Ein- und Aus­schalten des Lichts nach ihm zu rufen, wie die meisten gehörlosen Menschen es taten. Das klappte allerdings nur, wenn Jacob wach war.

Jedenfalls hatte das Klopfritual schon vor sechs Jahren bedeutet, dass er sich hier oben unter dem Dach des kleinen Häuschens sein eigenes Reich einrichten durfte. Er war damals dreizehn gewesen und hatte sich unfassbar darüber gefreut. Es war ein Zufluchtsort der Farben und der Gerüche für ihn geworden. Hier konnte er tun und lassen, was er wollte. Dass er selbst aufräumte und putzte, hatte Oma ihm von Anfang an abverlangt. Zu seinem Reich gehörte auch ein winziges Badezimmer, durch dessen Dachfenster man in den Himmel blicken konnte. Jacob liebte diesen Zufluchtsort und zog sich hierher zurück, wann immer er konnte. Er war sich dabei selbst genug.

Oma Anna sagte manchmal, dass sie sich um ihn sorgte, weil er nichts mit anderen Jungs oder Mädchen seines Alters unternahm. Er sah darin kein Problem, schließlich war er täglich in der Schule mit anderen zusammen. Dort benutzten die meisten die Gebärdenspra­che. Und wenn man gebärdete, musste man sich einander zuwen­den, um sich zu verständigen. Auch diejenigen, die die Lautsprache benutzten, waren darauf angewiesen, Blickkontakt zu halten, um von den Lippen ablesen zu können. Paradox, dachte Jacob oft, aber in gewisser Weise war in der Welt der Gehörlosen der Kontakt intensiver als in der Welt der Hörenden.

Jacob mochte sein Leben. Er würde nächstes Jahr Abitur machen, ein bisschen später als die Hörenden – aber nicht zu spät. Es war noch Zeit, um sich über seine berufliche Zukunft klar zu werden. Oma klopfte zum zweiten Mal nach ihm, und nach einem letzten Blick auf den Gehweg, auf dem Laura nicht mehr zu sehen war, ging er zur Tür.

Nach dem Abendessen zog Jacob sich wieder zurück. Das Gewitter war weitergezogen, die Schwüle lähmte ihn. Er öffnete das Giebel- und das Dachfenster in seinem Zimmer und im Bad und legte sich in T-Shirt und Boxershorts aufs Bett.

Trotz der Hitze behielt er sein Oberteil an; er mochte den Anblick seines nackten Oberkörpers nicht. Immer wieder sagte er sich, dass ein Mädchen ihn nicht attraktiv finden konnte, hager wie er war. Laura am wenigsten. Doch sie sah ihn eh nicht mit solchen Augen an. Das zwischen Laura und ihm war etwas anderes, es hatte nichts mit körperlicher Anziehung zu tun. Sagte er sich.

Und dennoch ließen ihr Geruch und ihr Gesicht keinen Raum für eine andere. Außerdem konnte nichts die innere Ruhe ersetzen, die er spürte, wenn sie ihren täglichen Blick tauschten. Ihm war längst klar geworden, dass dies das Äußerste an Gefühl für ihn bleiben würde, und er akzeptierte es. Ein Außenseiter wie er gehörte nicht dazu, zu keiner der beiden Welten, in denen er sich bewegte. Er war zu »strange«. Zuerst irritierte er die Menschen, weil er sie nicht hören konnte. Und im nächsten Schritt wandten sie sich mit Ekel von ihm ab, wenn sie bemerkten, dass er einen übersteigerten Geruchssinn hatte. Er begriff ja, dass der Gedanke die Menschen verunsicherte. Wie ein Hund konnte Jacob ziemlich genau erschnüffeln, wie sein Gegenüber drauf war. Inzwischen hatte er gelernt, diese Gabe zu überspielen, aber er hatte viele Jahre dafür gebraucht. Schließlich ersetzte ihm der Geruchssinn zu einem gro­ßen Teil das, was für andere das Gehör erledigte, nämlich Emotio­nen an der Stimme eines Menschen zu erkennen.

Er drehte sich auf den Bauch und erinnerte sich an den Tag, als er Omas Tagebücher gefunden hatte. Jacob hatte sie als Kleinkind dabei beobachtet, wie sie jeden Abend in diese Hefte schrieb und in ihrer sorgfältigen, steilen Schrift die Geschehnisse des Tages fest­hielt. Dann hatte er vergessen, dass sie diese Hefte führte. Wahr­scheinlich weil Oma sie, als er lesen und schreiben gelernt hatte, vor ihm versteckte. Erst vor drei Jahren war ihm ein Stapel davon in die Hände gefallen, und er hatte seine Neugier nicht beherrschen können. Hätte er nicht längst begriffen gehabt, wie unheimlich sei­ne Gabe war, hätte ihn die Beschreibung wahrscheinlich geschockt, doch so hatte sie ihm nur geholfen, noch besser zu verstehen, was Oma und Opa für ihn bedeuteten. Womöglich hatte Oma gerade diese Hefte absichtlich liegen lassen, kam es ihm jetzt zum ersten Mal in den Sinn, während er sich an ihre detaillierte Beschreibung erinnerte.

 

Ich habe etwas Neues herausgefunden: Jacob kann mit der Nase lernen! Endlich begreife ich, warum er alles abschnuppert wie ein Hund. Er hat einen übersteigerten Geruchssinn, das hat mir Doktor Lauenstein erklärt, und das ist nichts Unnormales. Ich lasse es jetzt zu, wenn er auf meinem Schoß sitzt und meine Haut und meine Kleider mit der Nase abschnuppert. Anscheinend legt er sich eine Art inneres Geruchsglossar an. Bernd meinte gestern, dass wir ihm dabei helfen können, und ja, er hat recht. Wieso bin ich nicht selbst auf die Idee gekommen?

Wir lassen Jacob jetzt wie ein Baby an allem riechen, wenn er etwas Neues kennenlernt. Manchmal leckt er sogar an den Dingen. Die Wörter, die etwas beschreiben, das einen Geruch hat, prägt er sich am schnellsten ein. Er kann sie nach einmaligem Nennen schon von unserem Mund ablesen, und die Gebärden dafür vergisst er nie wieder, während Bernd und ich jede Gebärde viele Male wiederholen müssen, bis wir sie endlich im Kopf behalten.

Ich weiß nicht, wie der Junge das macht, aber offensichtlich kann er über unsere Gerüche ganz viel über uns herausfinden. Ob es mit anderen Menschen auch funktioniert? Ich werde darauf achten müssen, dass er auf Fremde nicht aufdringlich wirkt, wenn er sein Geruchtswörterbuch erweitert. Aber bremsen werde ich ihn nicht. Auch wenn es eigenartig wirkt und vielleicht sogar indiskret, bewundere ich seine Fähigkeit.

 

Indiskret. Leider hatte sie durchaus das richtige Wort gefunden. Jacob seufzte. Für ihn zeigte sich rasch, dass seine Nase ihm half, vieles zu kompensieren. Er lernte lesen, noch bevor er eingeschult wurde, und das Schreiben kam ihm dann wie eine Befreiung vor.

In der Gehörlosenschule stieß er auf unterschiedliche Reaktio­nen. Die anderen Kinder brauchten fast alle länger, bis sie lesen und schreiben konnten, sodass er sich unterfordert fühlte. Aber ein Ver­such in der Regelschule schlug fehl, weil er sich nicht mit Lauten verständigen konnte. Vielleicht hatten seine Großeltern auch zu viel Angst um ihn; sie gaben schnell auf und ließen ihn wieder in die Gehörlosenschule versetzen.

Jacob drehte sich um und reckte sich zu dem Regalbrett über seinem Bett. Wie von selbst griff seine Hand nach einem Buch, das er vor Jahren schon gelesen hatte. Es hatte ihn damals beinahe erschreckt, wie intensiv er die Beschreibungen nachspüren konnte. Er schlug es auf und las den ersten Satz: »Im achtzehnten Jahrhun­dert lebte in Frankreich ein Mann, der zu den genialsten und ab­scheulichsten Gestalten dieser an genialen und abscheulichen Gestalten nicht armen Epoche gehörte.«

Jedes Mal, wenn er diesen Satz las, auch heute noch, zog sich sein Magen zusammen. Ganz unwillkürlich fragte er sich, ob er selbst so abscheulich war wie Grenouille, die Romanfigur aus »Das Parfum«. Dann sagte er sich, dass sein Geruchssinn nicht genial war wie der von Grenouille. Er würde auch niemals einem Menschen etwas zuleide tun. Außerdem lebte er in Geborgenheit und Liebe, nicht wie der ekelhafte Gnom im Roman. Ihm konnte also nichts passieren.

Er las weiter, und wie immer lösten die Beschreibungen des mit­telalterlichen, stinkenden Paris in seinem Kopf ein Feuerwerk an Gerüchen aus. Für ihn erschuf dieser Roman am stärksten von allen eine dreidimensionale Welt. Sein Deutschlehrer, Herr Stiller, hatte ihm das Buch kurz vor Einsetzen der Pubertät mit den Worten geschenkt: »Eigentlich bist du noch zu jung, aber ich glaube, einen passenderen Leser als dich kann es dafür gar nicht geben.«

Als Jacob es las, fühlte er sich zum ersten Mal verstanden. Hier fasste jemand in Worte, was er selbst fühlte und wie er lebte. Die Buchseiten waren inzwischen verfärbt und abgegriffen, manche an den Rändern zerfleddert, so oft hatte er es gelesen. Mit zunehmen­dem Alter wurden immer andere Stellen für ihn wichtig, die er mit dicken Bleistiftstrichen markierte.

An dem Tag, an dem Oma ihn bat, in Zukunft nicht mehr an ihr zu schnuppern, wenn sie weinte, war ihm klar geworden, dass er den Duft von Omas Kummer auch quer durch das Zimmer riechen konnte; er brauchte sich ihr nicht mehr zu nähern. Außerdem konnte er den Geruch von Kummer der Menschen, die ihm vertraut waren, in seiner Vorstellung vorwegnehmen. Er konnte sogar erlernte Gerüche in seiner Vorstellung miteinander mischen, noch bevor er sie real erlebte. So kam es, dass er immer deutlicher menschliche Emotionen am Geruch erkennen konnte, waren sie auch noch so subtil. Und ja, seine Oma hatte es frühzeitig geahnt: Schließlich gelang es ihm sogar bei Fremden – selbst wenn diese ihre Gefühle zu unterdrücken versuchten.

Er musste fünfzehn gewesen sein, als er sich Lauras Geruch gezielt einprägte. Ihr ureigener Duft jedoch hatte sich bereits bei ihrer ersten Begegnung in seine Erinnerung gesetzt – damals, als seine Großeltern mit ihm hierhergezogen waren, damit sie in Reich­weite der Gehörlosenschule lebten. Jahre später nahm er an Laura zum ersten Mal den Geruch der heranwachsenden Frau wahr. Wie ein unsichtbares Band wehte dieser intensivierte Geruch ihn seit­dem an, sobald sie auch nur in seine Nähe kam.

Verlegen drehte Jacob sich auf den Bauch, weil der bloße Gedanke an Laura ihn erregte. Noch während er sich bemühte, sich wieder zu beruhigen, zog ihm genau dieser Duft in die Nase. Laura musste nach Hause kommen!

Er sprang auf und ging zum Fenster. Sie öffnete das Türchen am Zaun und drehte sich kurz um, winkte zu ihm hoch. Dann ging sie mit hängenden Schultern zum Haus. Über ihrem eigenen Geruch schwebten eine Vanillenote von ihrem Duschzeug und Zitronen­grasshampoo. Auch ein Hauch des gechlorten Wassers schwang mit – anscheinend hatte sie es nur nachlässig abgewaschen. Doch was Jacob tief berührte, waren Frustration und zugleich schlechtes Gewissen, die sie aus allen Poren verströmte.

Als sie die Tür hinter sich schloss, wartete er, bis das Licht in ihrem Zimmer anging. Dieses Mal sah sie nicht mehr her, sondern zog den Vorhang mit abgewandtem Gesicht zu.

Jacob verkrampfte sich eine Sekunde. Laura ging es nicht gut, und er konnte ihr nicht helfen! Er durfte nicht in ihr Leben eingrei­fen. Sie hatten gemeinsam diese Routine entwickelt, die ihnen bei­den guttat – ein tägliches Grüßen, ein Blick, ein Winken. Er konnte nicht riskieren, das zu zerstören, indem er näher auf sie zuging. 

Würde sie ihn nicht wegjagen und über ihn lachen, wie damals?

Laura

Meine Mutter macht wieder einen Tanz! Warum wundere ich mich überhaupt noch? Ich hatte doch mein ganzes Leben Zeit, mich an sie zu gewöhnen. Trotzdem versuche ich immer wieder, mit ihr zu diskutieren. Aussichtslos. Endlich ist mein sechzehnter Geburtstag, und Paps will mir einen Motorroller schenken. Er hat mir gemailt, wie viel er kosten darf, also stöberte ich im Internet herum und fand eine Vespa in Perlmuttweiß, die nur minimal teurer ist. Ich habe ihm sofort den Link geschickt, und er hat mir noch am selben Abend zurückge­schrieben, dass er einverstanden ist.

 

»Laura, Liebes,

die Vespa ist todschick. Du weißt genau, dass ich da nicht Nein sagen kann. Du wickelst mich halt immer noch um den Finger, wie schon als Baby … Mit dem Führerschein endlich angefangen?«

 

Und genau das hat den Streit mit Mams ausgelöst. Wieder mal. Ein popeliger Motorrollerführerschein. Will ich zu viel? In der Schule haben fast alle außer mir längst ihren Schein in der Tasche. Seit einem Jahr bearbeite ich Mams, dass sie mir den Führerschein erlauben soll. Aber sie stellt auf stur.

»Ich will nicht, dass meine Tochter sich auf der Straße totfährt. Basta.« Das ist ihr Totschlagargument, und sie verwendet es immer schön im Abstand von einigen Wochen, heute wieder. Das lasse ich mir nicht mehr gefallen. Ich bin kein kleines Kind mehr. Sie kann mich nicht ewig einsperren. Das hat sie bloß noch nicht gecheckt.

Ich drehe mich vom Fenster weg und stapfe zum Schreibtisch, wo ich mir am PC das Bild meiner Vespa wieder angucke. Dann öffne ich meinen Mailaccount und suche die Mail von Paps, klicke auf »Antworten«. Die Wut in mir lässt meine Finger nur so über die Tastatur flie­gen.

 

»Lieber Paps!

Ich glaube, ich überlege mir alles noch mal. Es reicht! Ich ertrage Mams einfach nicht mehr. Heute hab ich bestimmt zum 1000sten Mal gefragt, ob ich endlich den Führerschein machen darf. Dann habe ich Idiotin ihr gesagt, dass du schon zugestimmt hast, mir eine Vespa S 50 zu schenken. Und dann habe ich auch noch gesagt, dass sie wie die Vespa auf dem Foto von euch aussieht. Ich könnte mir selbst in den A**** beißen.

Du kannst es dir schon denken, oder? Sie glotzte das Bild an, dann lachte sie auf, dass es mir in den Ohren wehtat, kippte den Rahmen nach vorne und drehte sich mit verschränkten Armen vom Klavier weg. Ich sah ihrem Gesicht an, dass ich einen Fehler gemacht hatte.

Echt, Paps, manchmal kann ich dich nur zu gut verstehen. Ihre Frustfratze ist unerträglich. Deshalb denke ich immer öfter an den Umzug, weißt du? Wenn ich zu dir und Pascale ziehen würde, müsste ich dieses vorwurfsvolle Gesicht nicht mehr anschauen.«

 

Ich lese meine Worte noch einmal und frage mich, ob Mams wirk­lich nicht peilt, wie es in mir aussieht. Sie ist doch selbst mal ein junges Mädchen gewesen. Echt, warum habe ausgerechnet ich so eine Mutter erwischt?

 

»Wann kann ich zu euch kommen? Ich helfe Pascale mit den Kindern, besonders mit Timmi. Ich weiß, dass sie mit den dreien eigentlich genug zu tun hat, aber ich verspreche, dass ich niemandem zur Last falle. Ihr werdet kaum merken, dass ich da bin. Und Pascale mag mich, das sagt sie mir in den Ferien jedes Mal.«

 

Ich kaue auf dem Daumennagel herum. Es stimmt schon: Papas Familie mag mich, und ich mag sie. Allerdings geht dort immer die Post ab. Niemand kann sich Zeit für mich nehmen, am allerwenigs­ten Paps. Bestimmt hat Pascale das Gefühl, ihn auch noch mit mir teilen zu müssen, wenn ich da bin. Dabei beansprucht Timmi sie schon den ganzen Tag. Er kann ja nichts dafür, dass er ein Down­kind ist. Pascales Leben hat sich nach seiner Geburt jedenfalls am meisten verändert: Sie hat endgültig ihre Arbeit aufgegeben, weil die Familie ein Fulltime-Job ist, jedenfalls solange die Kinder noch klein sind. Trotzdem hat sie mir schon ein paarmal gesagt, dass ich zu ihnen kommen könne, wenn ich nicht mehr weiter weiß. Viel­leicht hat sie ein Helfersyndrom.

Ich seufze. Nach einem kurzen Blick auf die Zeitanzeige am PC stehe ich auf, tappe wieder zum Fenster und halte nach Jacob Aus­schau. Mein Blick wandert wie ferngesteuert zum Zaun, zu der Stelle, an der der Kirschbaum steht. Ich werde nicht enttäuscht: Im Schatten der Blätter entdecke ich ihn. Er sieht zu meinem Fenster hoch. Im Lauf der Jahre hat er vom Stamm immer ein Stück weiter wegrücken müssen, weil er wahnsinnig groß ist und die Zweige ihm in die Haare reichen. Jetzt sieht er mich, hebt den Arm und winkt mir auf seine typische Art zu, indem er nur die Hand hin und her bewegt. Ich winke zurück, er lässt den Arm sinken. Wie immer spü­re ich die Ruhe, die von ihm ausgeht.

Jacob ist für mich wie der Schutzengel auf dem alten Bild, das Papas Mutter mir geschenkt hat und das seit meinem Babyalter in meinem Zimmer hängt. Es zeigt zwei schlafende Kinder an einem Abgrund. Ein Engel mit großen Schwingen beugt sich beschützend über die beiden. Klar ist es Kitsch pur, trotzdem hat es die schlimmsten Träume meiner Kindheit vertrieben, und ich hänge daran. Den Glauben an das Christkind, den Nikolaus und den Oster­hasen habe ich aufgegeben, aber meinen Schutzengel kann ich ein­fach nicht in der Schublade verschwinden lassen. Beim letzten Um­räumen meines Zimmers habe ich ihn gut versteckt in eine dunkle Ecke gehängt. Meine Freudinnen bemerkten natürlich trotzdem alle das Bild, aber keine von ihnen hat sich drüber lustig gemacht.

Jacob, mein Zaungucker, ist für mich genauso wichtig wie mein Schutzengel. Wir reden nie miteinander, und meine Freundinnen fanden ihn komisch damals, als sie ihn zum ersten Mal entdeckten. Dabei ist Jacob vollkommen harmlos. Er wartet einfach jeden Tag am Zaun und sieht zu mir hoch. Irgendwann begann auch ich, zu ihm zu schauen. So, als müsse ich sichergehen, dass er mich nicht vergessen hat. Wir winken kurz, dann verschwindet er wieder. Ich weiß nicht mehr, wann er damit angefangen hat, aber für mich gehört er unter diesen Kirschbaum wie die Früchte, die jedes Jahr daran reifen. Jetzt dreht Jacob sich um, wechselt die Seite und schlendert die Straße entlang zu dem Haus, in dem er wohnt.

Ich gehe zum Schreibtisch zurück und lese meine Mail noch ein­mal durch. Meine Wut ist verpufft. Das ist Jacobs Wirkung. Ich erkenne beim Lesen, wie schlecht ich Mams mache. Das verdient sie nicht. Seufzend lösche ich den gesamten Text.

Manchmal wünschte ich mir, ich könnte so locker mit dem wackligen Seelenfrieden meiner Mutter umgehen wie meine Freun­dinnen, die sich von ihren Eltern nichts bieten lassen. Ich wünschte, ich könnte Mamas verdammte Sorgen abschütteln wie Konfetti. Ich würde mich ohne ihre Einwilligung zum Führerschein anmelden. Die Unterschrift von Paps zu bekommen, um sie in der Fahrschule vorzulegen, kostet mich eine einzige kurze Mail. Ich würde ohne Erlaubnis bei Freunden übernachten, anstatt alle immer nur zu mir einzuladen. Aber ich schaffe es nicht, weil ich weiß, woher ihre Ängste kommen. Und obwohl mich ihre Scheiß-Fürsorge irre macht, bringe ich es nicht über mich, Mams auflaufen zu lassen.

Sogar in der Sache mit Dennis gehe ich wie auf rohen Eiern, weil ich genau weiß, dass sie sich ins Hemd macht. Kaum hat sie ihn zum ersten Mal gesehen, hat sie mich gleich zur Frauenärztin geschleppt und mir die Pille verschreiben lassen. Ich konnte genau sehen, wie schlecht es ihr da ging, obwohl sie ihn mag. Dabei bin ich nicht mal so weit. Dennis ist mein erster Freund, und ich weiß noch gar nicht, ob ich »es« schon will, ob ich es mit ihm will. Natürlich habe ich das Mams nicht auf die Nase gebunden. Da wäre ich schön blöd, ihr zu stecken, dass sie sich vorerst nicht um mein Sexleben zu sorgen braucht, weil ich keins habe. Das hätte nur das Gleichgewicht in unserer Mutter-Tochter-Kiste gestört. Puh, ich verrenne mich in meinem Gedankenwirrwarr, wie so oft.

Ich lege mich aufs Bett und verschränke die Arme hinter dem Kopf, schon sehe ich ihn vor mir. Dennis. Fast alle Mädels der Schule stehen auf ihn. Leider hat er mit den meisten auch schon mal was gehabt. Ich kann nichts dagegen tun, dass mein Herz loswummert, wenn er in meiner Nähe ist. Natürlich hätte ich nie gedacht, von ihm überhaupt wahrgenommen zu wer­den. Ich bin total unspektakulär. Das Einzige, was auffällt, ist mei­ne Oberweite. Kann ich was dafür? Ich hab sie mir nicht ausge­sucht. Nur aus purem Trotz ziehe ich enge Oberteile an. Seit Mams nörgelte, ich solle meine »Vorzüge« nicht so hervorkehren. Sie selbst trägt, seit ich zurückdenken kann, nur Hosen und Hemden und dazu ihren strengen Pagenschnitt. Auf dem Vespa-Foto mit Paps war das noch nicht so: Mit ihrem langen, gewellten Haar und dem Sommerkleid wirkte sie komplett anders als heute, richtig unbeschwert.

Aber zurück zu Dennis. Als er mich vor ein paar Tagen auf dem Pausenhof ansprach, war ich überrumpelt. Mein Puls rauschte mir in den Ohren. Zuerst dachte ich, ich hätte mich verhört. Bestimmt hatte er nicht »Laura« gesagt, sondern einen anderen Namen. Aber in meiner Nähe konnte ich kein anderes Mädchen sehen. Er lächelte mich an mit seinen grünen Augen, die Hände lässig in den Hosenta­schen. An seinen Unterarmen glänzten goldene Härchen.

»Äh«, stammelte ich, worauf sein Grinsen sich vertiefte. Ich glaube, er weiß ganz genau, wie er wirkt. Mein Hirn legte sich schlafen, stattdessen bestand ich nur noch aus Körper und Hormo­nen. »Was hast du gesagt?« Meine eigene Stimme klang fremd für mich.

»Bis jetzt noch nichts außer Hallo.« Er legte den Kopf schief. »Ich möchte dich fragen, ob du mit mir ein Eis essen gehen magst.«

»Ein Eis?« Wie dämlich kann man eigentlich nachfragen?

Dennis schreckte das nicht ab, am nächsten Tag trafen wir uns im Eiscafé. Es war total locker, nachdem ich erst mal aufgetaut war. Er brachte mich mit seinem Roller nach Hause. Als er mich küssen wollte, drehte ich allerdings den Kopf weg. Erst gestern hauchte ich ihm bei unserem Abschied einen Kuss auf die Wange, und schon heute gingen wir Arm in Arm über den Pausenhof. Womit allen in der Schule klar ist, dass Dennis und ich jetzt ein Paar sind. Er berührt mich dauernd, kann kaum die Finger von mir lassen. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, wie ich mich fühle. Überglücklich, weil er mein Freund ist, trotzdem nachdenklich. Ist es nur das?

Ich bin beinahe dankbar, Mamas Schritte auf der Treppe zu hören. Sie wird mich von dem Gewusel in meinem Kopf ablenken. Ich springe auf, um das Fenster zu öffnen, weil mir unerträglich heiß geworden ist. Wenigstens kommt ein Lufthauch ins Zimmer. Da draußen scheint sich ein Gewitter zusammenzubrauen. Das wür­de der unerträglichen Hitze endlich ein Ende machen. Mams klopft einmal an, dann kommt sie schon herein. Ich sehe ihre roten Augen und mag es nicht glauben. Sie heult, weil ich einen Roller haben möchte? Sofort stellen sich meine Nackenhaare auf.

»Laura, mein Schnurzelchen«, sie beißt sich auf die Lippen, noch bevor ich genervt knurre. »Sorry, das ist mir so rausgerutscht. Kleines, ich muss mit dir noch mal über alles reden.«

Ich seufze. Sie schlingt die Arme um den Oberkörper, als fröre sie. Bei über dreißig Grad! Ich schließe das Fenster. Sie folgt meinen Bewegun­gen mit einem verwirrten Ausdruck, dann lässt sie die Arme wieder sinken.

»Damals war es auch so heiß, weißt du?«

Ich stöhne. Sie zuckt zusammen, dann macht sie mit den Augen diesen Dreher nach innen und taucht ab. Ich glaube, nur ich erken­ne, wenn sie das macht, keiner sonst. Mir ist völlig klar, dass sie sich jetzt wieder zurück zum Tag meiner Geburt beamt. Wie oft habe ich diesen Tag schon verflucht? Hätte ich mich doch damals in ihrem Bauch bloß nicht gemuckst. Was weiß ich, vielleicht habe ich reflexhaft auf den Krach oder die Todesangst reagiert, die Mams erlebt haben muss.

»Ich fühlte mich wie ein Nilpferd. Meine Waden waren so dick.« Sie deutet mit den Händen an, wie ihre Beine in der Schwan­gerschaft angeschwollen waren. Als ob ich das wissen wollte! Aber wenn Mams abdriftet, spielen meine Gefühle keine Rolle für sie. Sie merkt nicht, wie das bei mir ankommt. »Ich war so gespannt darauf, dich auf dem Ultraschallmonitor zu sehen.«

»Ja, ich weiß, Mams. Und dann war da dieser Stau, und hinter dir ein Lkw, der zu spät bremste.« Sie merkt nicht, in welchem Ton ich das abspule. Ich mache das aus reinem Selbstschutz, damit ich es schneller hinter mir habe. Sie nickt. Ich schließe die Augen und lasse den Rest über mich ergehen.

»Genau so war es. Und als du deinen ersten Schrei ausgestoßen hast, starb dieser Mann nur ein paar Räume weiter. Es hätte genau­so gut uns erwischen können.« An dieser Stelle verschlägt es ihr jedes Mal die Sprache, ein Schluchzer wühlt sich aus ihren tiefsten Eingeweiden nach oben – so hört es sich jedenfalls an.

Mams hat mir diese Horrorgeschichte schon aufgetischt, als ich noch ganz klein war. Damals habe ich gespürt, dass an meiner Geburt irgendetwas schlimm war. Aber ich habe nie begriffen, was. War ich schuld am Tod dieser anderen Menschen? Ich muss in der Grundschule gewesen sein, als ich zum ersten Mal mit Trotz auf das Theater reagierte. Ich muss mich innerlich abgeschottet haben, weil ich mir diesen Scheiß nicht aufladen lassen wollte. Mams merkte es nicht!

Ich gehe einen Schritt auf sie zu und fasse sie an den Oberar­men. »Komm wieder runter! Seitdem sind sechzehn Jahre vergan­gen, ich bin kein Kind mehr. Niemand kann etwas für diesen Unfall, und du machst mir trotzdem immer noch das Leben zur Hölle deswegen.«

Sie kommt wieder in der Realität an, ich erkenne es an ihren Pupillen, die sich zusammenziehen. »Nein, natürlich hast du keine Schuld, mein Herz, du am allerwenigsten.« Sie schüttelt den Kopf. »Ich kann meine Angst nicht ignorieren. Ich will nicht, dass du dich in Gefahr bringst. Ich habe damals erlebt, wie schnell es gehen kann.« Ihre Stimme klingt wieder fest.

»Du kannst mich nicht in Watte packen! Alle in meiner Klasse haben längst den Rollerführerschein. Paps ist doch auch einverstan­den.«

»Komm mir nicht mit Paps. Der hat sich schön aus dem Staub gemacht, als wir ihn am nötigsten brauchten. Hat mich sitzen lassen mit meiner Angst und meiner kleinen Tochter.« Sie will die Arme um mich schlingen, ich weiche zurück. »Laura, du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben, weißt du das nicht? Ich will dich nur beschützen! Gib mir noch ein biss­chen Zeit. Du wirst früh genug in die Welt da raus gehen.«

»Du erdrückst mich, Mams! Du hältst mich wie eine Gefange­ne.« Sie reißt die Augen auf, sofort tut es mir wieder leid. Ich ziehe sie an mich. »Nein, das stimmt nicht, Mams, das stimmt nicht. Ich verstehe dich ja.« Ich wiege sie hin und her. Sie ist größer als ich, aber dünner. In meinen Armen wirkt sie zerbrechlich. Ich fühle mich viel stärker als sie. Wieder einmal.

Trotzdem ist am Ende sie diejenige, die ihren Willen durchge­setzt hat. Das wird mir klar, nachdem sie ein paar Stunden später in ihr Schlafzimmer verschwunden ist. In der Zeit, in der ich zum Schwimmen war, hat sie die Küche aufgeräumt und ein leckeres kleines Abendessen gezaubert. Am Tisch hat sie von den neuen Schokosorten in der Firma meiner Großeltern gesprochen und mir dann entspannt und gut gelaunt »Gute Nacht« gewünscht. Für sie ist die Welt also wieder in Ordnung. 

Nur ich liege schlaflos im Bett und frage mich, wann ich es schaffen werde, mich aus ihren Krallen zu befreien. 

Das ist das erste Kapitel des Romans. Das Taschenbuch hat 320 Seiten. Ihr könnt das Buch als e-Book oder als Taschenbuch erwerben - überall, wo es Bücher gibt, online oder bei eurem Buchhändler vor Ort!

Erscheinungstermin: 30. April 2018