Adventskalender 2015 von Heike Schulz und Angelika Lauriel

 

Wie es seit einigen Jahren Tradition ist, schreiben meine Schreibschwester Heike Schulz und ich im Advent abwechselnd eine Geschichte für unsere LeserInnen. Die Regeln: Kein abgesprochener Plot, keine Vorgaben außer der, dass die Geschichte sinnvoll fortgeführt werden muss. Es kann jeden Tag eine überraschende Wendung geben. Klicken Sie täglich bis Heilig Abend auf unseren Homepages das neue "Türchen" an und fiebern Sie mit unseren kindlichen und alten Protagonisten mit, wie diese Geschichte wohl weitergeht.

Die Geschichten der letzten Jahre finden Sie übrigens im Archiv.

Und dieses Jahr gibt es zum ersten Mal auch eine in elektronischer Buchform: "Christkind verzweifelt gesucht" ist die schräge und liebenswerte Geschichte des Gestaltwandlers Gans-Anders und des Weihnachtswichtels Ehrenfried von Wolkenhain, die ein spannendes Abenteuer erleben, bevor Heilig Abend mit dem einzig wahren Christkind stattfinden kann. Klicken Sie rechts auf das Banner "Buch des Monats".

 

Bitte beachten Sie, dass das Copyright dieser Geschichte bei Heike Schulz und mir liegt. Zitate - auch auszugsweise - bedürfen unserer schriftlichen Genehmigung.


24. Dezember 2015 - erzählt von Angelika Lauriel

Auch heute noch kann ich die ganze Geschichte nur schwer begreifen.

Es war eine vollgestopfte Woche, nachdem wir in Gottesgabe auf Wolfgang Breitenbach und Samuel gestoßen waren. Wie Molla und Samuel sich angesehen hatten! Mir wurde ganz mulmig zumute, so deutlich erkannte ich die Liebe, die aus den Blicken der beiden sprach. Noch während wir in dem gemütlichen Kaminzimmer beieinander standen und Wolfgang uns allen einen starken Kaffee aufbrühte, spürte ich plötzlich eine kleine Hand in meiner. Erstaunt sah ich hinunter und musste bei dem ansteckenden Zahnlückenlächeln schmunzeln.
"Komm, Anton, du findest Oma doch genauso klasse, oder? Was die beiden können, könnt ihr auch." Damit schob Nils meine Hand in die von Agathe.
Es fühlte sich an wie Nachhausekommen, als ich ihre Hand hielt.

Wolfgang Breitenbach verfiel in Aktionismus. "Ich habe es immer gewusst", erklärte er, während er die Türen zu allen Zimmern öffnete, damit die Wärme sich im Haus verteilen konnte. "Ich wusste, dass ihr beide wieder zueinander finden würdet." Er war zu einer großen Truhe getreten und holte Wäsche daraus hervor. "Ihr müsst alle meine Gäste sein. Ich will alles hören." Er schüttelte den Kopf und sah von Samuel zu Molla. "Und ihr seid euch sicher, dass diese Frau im Wald Lukretia war?"
"Das hat sie uns selbst gesagt." Amelie griff nach einem der Wäschestücke und bezog ein Kopfkissen. "Aber Nils und ich müssen übermorgen wieder zuhause sein. Wir haben doch Schule ..."
Wolfgang verzog den Mund. "Natürlich, daran habe ich nicht gedacht."
Agathe drückte meine Hand. "Wir bringen die beiden heim, oder? Mit meinem Sohn will ich es mir nicht verscherzen", fügte sie in Wolfgangs Richtung hinzu.
"Aber Molla und ich nehmen deine Gastfreundschaft sehr gern an." Samuel hatte die ganze Zeit geschwiegen, und seine Stimme klang jetzt freier als vorher. Er wirkte glücklich.
"Damit ist das geklärt. Ich rufe gleich im Heim an und lasse dich von heute an bis nach den Weihnachtsferien beurlauben." Wolfgang wirkte entschlossen. Er warf einen Blick auf den riesigen Schäferhund, der auf einem abgewetzten Fell vor dem Kamin lag. "Albus hat genau gewusst, was er tat."
Schließlich saßen wir um den Tisch herum, und Hunderte Fragen wurden gestellt und beantwortet. Zuerst die nach der Einsiedlerin im Wald. Samuel berichtete als Erster, was er mit ihr erlebt und wie sie seine eigene Lebensgeschichte mit Informationen ergänzt hatte.
"Sie hat gesagt, der Engel wäre ursprünglich ein Hochzeitsgeschenk gewesen?"
Samuel nickte. "Ja, der Engel, den ich bei meiner Flucht neben dem Bahndamm im Wald gefunden habe, hat einem jungen Mann gehört, der nach Auschwitz deportiert wurde. Der hat ihn mit einer Botschaft aus dem Zug geworfen, um einem kleinen Jungen die allergrößte Angst zu nehmen."
Wolfgang wurde darauf sehr still. "Wisst ihr ..." Er schluckte trocken. "Meine Großmutter war verlobt, bevor sie meinen Großvater heiratete. Ihr Verlobter musste eine Reise antreten. Das war in den letzten Kriegsjahren. Er sollte nach Auschwitz; damals wusste keiner, was das bedeutete - oder man ahnte es doch nur. Der junge Mann kehrte niemals zurück. Kurz nach dem Krieg hatte meine Großmutter die Gewissheit, dass er tot war. Sie sprach oft von einem Engel, den ihr Verlobter ihr versprochen hatte. Sie wartete ihr Leben lang darauf, von diesem Engel wieder etwas zu hören."
Amelie hibbelte auf der Couch herum und hielt es nicht mehr länger aus. "Das muss unser Engel gewesen sein", platzte sie schließlich heraus. Dann schlug sie sich die Hände vor die Augen. "Und ich habe ihn kaputtgemacht!" Sie weinte bitterlich. Nils kuschelte sich an seine Schwester, seine Augen schwammen ebenfalls in Tränen. Samuel und Agathe sprachen gleichzeitig auf sie ein.
"Nein, Kind, wenn er jetzt zerstört ist, musste es so sein. Dich trifft keine Schuld."
Dann stand Samuel auf und holte einen Pappkarton von einem niedrigen Schrank. "Sieh mal, was ich hier habe", sagte er leise. Er öffnete den Karton und zog eine Porzellanfigur heraus, stellte sie mitten auf den Tisch. Ich hielt, wie alle anderen, den Atem an. Da stand ein Engel, der demjenigen genau glich, von dem ich vor ein paar Tagen nicht viel mehr als einen Flügel und gefaltete Hände hatte erkennen können. Dieser hielt die Arme ausgebreitet, wie um jemanden willkommen zu heißen.
Amelie entwich ein atemloser Laut. "Der sieht ja aus wie unserer ..."
"Nur fast", erklärte Nils.
"Und wem soll er nun gehören?" Molla sah von Samuel zu Wolfgang. "Die junge Frau war deine Großmutter?"
"Ja, das war sie. Mein Vater hat versucht, etwas über den Verbleib des Engels herauszufinden.  Aber man wusste nichts darüber, was mit den wenigen Habseligkeiten der Einsassen der Lager geschehen war ..." Er hielt inne und wischte sich mit der Hand über die Augen, wie um die ungebetenen Bilder zu vertreiben. "Das alles wurde erst nach und nach aufgeklärt. Das meiste blieb natürlich verschwunden. Aber es gab die Legende um Lukretia. Es hieß, die weise Einsiedlerin wüsste Bescheid. Ich weiß nicht, wie oft ich nach ihrer Kate gesucht habe. Vergeblich."
"Hm, aber dann gehört der Engel dir." Amelies Schultern sackten herunter. "Den anderen gibt es ja nicht mehr."
In diesem Moment fasste Wolfgang den Entschluss: Er lud uns alle für Weihnachten nach Gottesgabe ein. "Dieses Jahr ist ein besonderes. Ich werde das Haus herrichten." Er sah zu Samuel. "Und mit Joshs Hilfe und der der ganzen Familie auch das deiner Mutter. Meine Frau und meine Kinder liegen mir schon seit Jahren in den Ohren, dass wir unbedingt hier mal Weihnachten feiern sollen." Er rieb sich die Hände. "Jetzt machen wir es einfach."

Der Engel reiste mit uns zurück, aber unterwegs meinte Amelie plötzlich: "Oma, findest du das richtig?"
"Was denn, mein Kind?" Agathes Hand auf meinem Oberschenkel bewegte sich leicht, als sie sich zur Rückbank umdrehte, um ihrer Enkelin in die Augen zu sehen.
"Weißt du, der Engel ist wunderschön und alles. Aber ... wie soll ich das erklären? Ich werde ganz traurig, wenn ich mir vorstelle, dass wir ihn so weit von seinem Zuhause fort bringen."
"Ich bin auch traurig", erklärte Nils überraschend. "Ich glaube, wir müssen das Paps einfach erklären."
Agathe lachte. "Ich habe wunderbare Enkelkinder, findest du nicht auch?" Sie hauchte mir einen Luftkuss zu. Ich konnte ihr nur zustimmen.
Und so kam es, dass wir eine gute Woche später wieder nach Gottesgabe fuhren. Steffen bedauerte es, dass wir zwei Wagen benutzen mussten. Wie seine Augen leuchteten, als ich mit meinem Oldie und Agathe mit ihrem Mini vorfuhren!
"Was ...?" Er stand mit offenem Mund neben seinem Kombi, der Kofferraumdeckel war geöffnet.
"Diese bezaubernde junge Dame hat mir angeboten, in ihrem Mini mitzufahren", erklärte ich mit einem Augenzwinkern und hielt Steffen meinen Schlüssel hin.
"Donnerwetter", war sein Kommentar.

Nun sitzen wir alle in diesem alten Häuschen, das noch vor einigen Tagen so baufällig gewirkt hat, und erleben eines der ungewöhnlichsten Weihnachtsfeste, die wir jemals hatten. Es ist beschlossene Sache: Der Engel bleibt in Gottesgabe. Wolfgang und seine Familie werden hierher ziehen und die Bäckerei wieder zum Leben erwecken, die sein Großvater einst betrieben hat.
Molla hat sich entschieden, auf ihre alten Tage noch umzuziehen. In Gut Klein Welzin ist ein Doppelzimmer frei. Sie und Samuel wirken zu allem entschlossen, und es tut gut, sie so zu sehen.
Nun, Agathe und ich sind ein Paar geworden. Ja, das ging schnell, aber wer sollte sich daran stören? Wir haben unseren ersten Urlaub in der Provence geplant.
Die Kinder - Amelie, Nils, Wolfgangs beide Kinder und die Enkel von Samuel - tollen draußen im Schnee. Schon sehr bald werden wir sie hereinrufen, um zu essen, Weihnachtslieder zu singen und die Geschenke zu verteilen.
"Nur eines habe ich jetzt noch nicht begriffen", sagt Josh, der den dampfenden Festtagsbraten auf den Tisch bringt. "Gibt es die geheimnisvolle Lukretia nun wirklich, oder gibt es sie nicht?"
Molla, meine liebe, alte, blaustrümpfige Freundin, streckt den Finger aus und deutet auf den Weihnachtsbaum. "Siehst du diesen Engel?"
"Ja, natürlich, um ihn ging es doch die ganze Zeit."
"Wenn es ihn gibt, muss es auch Lukretia geben. Oder gegeben haben."
Josh runzelt die Stirn und sieht damit dem alten Samuel frappierend ähnlich.
"Mein Sohn, ich wünsche dir für dieses Weihnachtsfest und für alle Zeit Liebe, Frieden und ... ja, wie wäre es mit Milde?"
"Aber die Liebe ist die größte unter ihnen", murmelt Agathe und drückt meine Hand.


23. Dezember 2015 - erzählt von Heike Schulz

Lukretia versorgte sie alle mit heißem Tee und Schmalzbroten, und während sie aßen, tranken und den Schrecken der vergangenen Stunden vertrieben, erzählten sie Lukretia, was sie überhaupt erst in diese haarsträubende Lage gebracht hatte. Als die Sprache auf den zerbrochenen Engel kam, lächelte sie verschmitzt und zwinkerte Amelie verschwörerisch zu, schwieg sich aber zu dem Thema aus. Nachdem sie den letzten Krümel verspeist hatten, seufzte Amelie zufrieden. Sie glaubte, noch nie zuvor etwas Köstlicheres gegessen zu haben und strich sich über den prall gefüllten Bauch. Nils hatte sich längst auf dem Sofa unter einer Flickendecke zusammengerollt, und auch Amelie gähnte herzhaft beim Anblick ihres schlafenden Bruders.
"Und du bist dir wirklich sicher, dass es Samuel gut geht?", fragte Molla nun schon zum wahrscheinlich hundertsten Mal.
Lukretia tätschelte ihr beruhigend die Hand. "Gewiss geht es ihm gut. Schade, dass ihr ihn knapp verpasst habt, aber ich bin sicher, morgen früh wird sich alles zum Guten wenden. Ihr werdet schon sehen."
"Und der Wolf?", fragte Amelie. "Er hat uns bis hierher gejagt. Nicht, dass er jetzt in diesem Moment gerade Samuel verspeist."
Lukretia schüttelte milde lächelnd den Kopf. "Wolf? Hier gibt es keine Wölfe. Und wenn, hätten sie vor euch mehr Angst als ihr vor ihnen. Wölfe halten sich von Menschen fern."
"Der von vorhin aber nicht", gab Anton zu bedenken. "Zum Glück haben wir im letzten Moment deine Hütte gesehen, sonst hätte er uns ..." Anton warf einen warnenden Blick zu Amelie und dem schlafenden Nils, und nickte vielsagend.
"Ach, ihr meint sicher Albus!", lachte Lukretia. "Der hat euch nicht gejagt, er hat euch her gebracht."
"Wer ist Albus?", wollte Oma Agathe wissen.
"Das ist der Hund vom kleinen Wolfgang. Den müsst ihr doch kennengelernt haben, als ihr in Gottesgabe wart."
"Du meinst Herrn Breitenbach?", hakte Anton nach. "Ja, den haben wir kennengelernt. Ein sehr netter Mensch."
"Ja, das ist er." Lukretia nickte bekräftigend. "Schade, dass er das Haus seiner Großmutter verkaufen möchte. Er weiß es noch nicht, aber wenn er sich nur entschließen würde, mit seiner Familie hierher zu ziehen, dann würde er ..." Sie hob die Schultern. "Aber das muss er selbst herausfinden. Der Ort heißt nicht umsonst Gottesgabe, müsst ihr wissen. Diesem Flecken Erde wohnt ein besonderer Zauber inne. Die Menschen haben nur verlernt, ihn zu sehen, zu spüren und ihm zu folgen."
"Und sein Hund hat uns her gebracht?", fragte Oma Agathe ungläubig. "Warum?"
Lukretia zog erstaunt die Augenbrauen hoch. "Ist das nicht offensichtlich?"
Sie stand auf, ging zum Schrank und kramte ein paar Patchworkdecken daraus hervor. "Und nun sollten wir alle zu Bett gehen. Morgen wird ein aufregender Tag für euch. Die Kinder können auf dem einen Sofa schlafen, die beiden Damen auf dem anderen, und für dich, lieber Anton, schieben wir die beiden Sessel zusammen. Das wird schon gehen."
Mit vereinten Kräften bauten sie das Nachtlager, und noch ehe Amelies Kopf auf das Kissen sank, war sie tief und fest eingeschlafen.

Es dämmerte bereits, als sie am nächsten Morgen ihre Siebensachen zusammenpackten und sich nach einem Frühstück aus Honigbroten, Tee und Spiegeleiern von Lukretia verabschiedeten. Amelie wurde es ein wenig schwer ums Herz, als sie die alte Frau zum Abschied in den Arm nahm und fest an sich drückte. In den wenigen Stunden ihres Beisammenseins hatte sie Lukretia so lieb gewonnen, dass sie ihr versprach, sie bald wieder zu besuchen. Lukretia lächelte geheimnisvoll bei diesen Worten und streichelte sanft Amelies Wange. Dabei sah sie ihr so tief in die Augen, dass ihr Gesicht vor Amelie verschwamm, und sie hätte schwören können, dass sie für einen Augenblick wie ein junges Mädchen aussah. Dann blinzelte Amelie, und die Illusion war verschwunden.
"Leb wohl und gib auf den Engel acht", flüsterte Lukretia, und Amelie spürte einen Kloß im Hals aufsteigen.

"Kommt, wir müssen los", trieb Oma Agathe sie an, und während Anton sich von Lukretia den Weg nach Gottesgabe erklären ließ, traten sie vor die Hütte. Rund um die Hütte lag der Schnee unberührt und rein wie Zuckerwatte.
"Amelie, komm! Schneeengel machen!", rief Nils und warf sich rücklings in die weiße Pracht. Jauchzend ließ Amelie sich neben ihn fallen, und als sie sich lachend aufrichteten, glitzerten zwei perfekte Engel in der Morgensonne.
Sie winkten zum Abschied, stapften los und hatten gerade ein paar Schritte zurückgelegt, da fiel Amelie noch etwas ein. Sie hatte ganz vergessen zu fragen, wie sie auf den Engel aufpassen sollte, wenn er doch kaputt war. Sie drehte sich um, die Frage schon halb ausgesprochen auf den Lippen, doch die Hütte samt Lukretia war verschwunden.
Nur die beiden perfekten Schneeengel lagen strahlend weiß im unberührten Schnee.


22. Dezember - erzählt von Angelika Lauriel

Als hätte er einen Anflug seiner Jugend zurück bekommen, drehte Samuel sich wieder um und holte mit großen Schritten aus, jetzt ganz sicher, wo er war und wie er an sein Ziel kommen würde. Es fühlte sich überhaupt nicht schlecht an, dass Lukretia verschwunden war, sobald er zu ihrer Tür hinaus getreten war. Nach ein paar hundert Metern war er sich nicht einmal mehr sicher, ob ihre Hütte wirklich verschwunden war oder er sie einfach nicht mehr gesehen hatte. Vielleicht musste das alles so sein ... Die Prophezeiung hallte in seinem Kopf nach, ausgesprochen von Lukretia mit der hallenden Stimme und den leuchtenden Augen. Immer wieder musste er leise in sich hinein kichern. Was für eine "abgefahrene Story", wie sein Enkel das bezeichnen würde.

Der Mond schien durch die lichter werdenden Bäume auf den Weg, und Samuel fragte sich nachgerade, wie er sich hatte so verlaufen können. Hier hatte er als Kind mit seinen Brüdern Räuber und Gendarm gespielt, und in den Wintern, in denen es so viel Schnee gab wie dieses Jahr, waren sie dort hinten vom Waldrand aus mit dem Holzschlitten gefahren. Schöne Zeiten waren das gewesen, auch wenn es zwischen den beiden Weltkriegen niemals wirklich friedlich und ruhig zugegangen war. Trotzdem - seine Familie war intakt gewesen, und Vater konnte auch seine schrecklichen Erlebnisse von der Front nach und nach vergessen. Nun, vergessen vermutlich nicht, dachte Samuel, aber er lernte, mit ihnen zu leben. Plötzlich glaubte Samuel, die Stimme von Aron zu hören, der ihn damals beruhigte - an einem Wintertag, an dem sie die Zeit vergessen hatten und bis zum Einbruch der Dunkelheit rodelten. "Du Dummkopf", hatte Aron damals gesagt und mit dem Finger gegen seine Stirn getippt. "Denkst du, wir sind hier bei Rotkäppchen?" Dabei war Samuel sich ganz sicher gewesen, einen Wolf gehört zu haben.

Ein lang gezogener, kehliger Laut erklang irgendwo in der Ferne, und eine Gänsehaut lief Samuels Waden hinauf. Ja, genauso hatte es sich damals auch angehört! Er und seine Brüder hatten die Beine in die Hand genommen und waren gerannt wie die Hasen. Als sie an der Tür ihres Häuschens ankamen, hatte Mutter schon auf sie gewartet und laut gelacht, als sie die schreckgeweiteten Augen ihrer Söhne gesehen hatte.

Unwillkürlich legte Samuel auch jetzt einen Zahn zu. Einem Wolf zu begegnen war nun nicht das, was er sich so kurz vor Weihnachten wünschte. Und aufhalten lassen wollte er sich auch nicht mehr. Da sah er bereits die ersten Dächer von Gottesgabe. Traurig: Die meisten Fenster darunter waren dunkel und wiesen auf die leeren, verlassenen Häuser hin. Das Leben zog sich immer mehr zurück aus seinem Heimatort. Als Samuel den Pfad verließ und auf die Ortsstraße trat, hörte er plötzlich das Geräusch von vier Pfoten, die sich näherten. Der Schnee knirschte leise, und es klang ein bisschen wie Pferdegalopp, nur nicht so laut. Außerdem hechelte der Wolf, der offenbar schnell näher kam. Samuel zog die Schultern nach oben und wirbelte herum. Da war er auch schon heran. Groß, grau, mit gelben Augen, die Ohren nach vorn gereckt, die Lefzen entspannt. Er tappste heran und stupste Samuel mit der Schnauze an.
"Ja, sag mal, bist du ..." Wie hatte der Hund der Nachbarn noch geheißen?
"Albus", hörte er eine Männerstimme rufen. Nein, das war nicht sein Name gewesen. Aber das konnte ja auch nicht sein, das war viel zu lange her. "Albus, hier!" Ein Mann lief herbei und wedelte mit einer Leine. "Verflixt, du Ausreißer, wann lernst du endlich zu gehorchen? Hat er Sie erschreckt? Er ist harmlos, aber ein bisschen groß für sein Alter. Er benimmt sich halt immer noch wie ein Kind, obwohl er im Grunde schon ein Jugendlicher ist."
Albus wedelte mit dem Schweif, als ob er stolz darauf wäre, dass sein Besitzer über ihn redete.
"Nein ... ähm, ich habe gleich gesehen, dass er ein ganz Lieber ist ..." Samuel betrachtete den Mann, der die Leine am Halsband befestigte, sich wieder aufrichtete und ihn seinerseits musterte.
"Samuel, bist du das?" Er beugte sich ein bisschen vor und schob die Wollmütze aus der Stirn. "Ja, du bist es! Sie suchen alle nach dir, weißt du das überhaupt?"
"Ähm ..." Samuel räusperte sich. Langsam konnte er sich denken, wer der Mann war. "Ach, der kleine Wolfgang, richtig? Wie kommt es, dass du hier in Gottesgabe bist?"
"Ich habe nach dem Haus meiner Großeltern gesehen." Er klopfte Samuel gegen den Oberarm. "Komm, du musst völlig durchgefroren sein. In dem alten Haus ist es schön warm. Ich hatte heute unerwartet Besuch und habe deshalb den Kamin angeworfen. Komm erst mal mit, und dann rufen wir in Klein Welzin an."

Eine Stunde später hatte Wolfgang von dem Besuch berichtet, der heute so unverhofft bei ihm aufgekreuzt war. Aufregung hatte Samuel ergriffen. Molla und Agathe waren hier gewesen! Und wahrscheinlich suchten sie nach ihm, genau wie die Heimleitung und die Polizei.
Als Woflgang aufstand und sein Handy aus der Jackentasche zog, setzte Samuel sich aufrecht hin. "Wolfgang, wäre es wohl möglich, dass ich eine Nacht hier bleiben kann? Mir geht es gut und ... na ja, ich möchte nicht zurück nach Klein Welzin."
"Klar kannst du das. Ich fahre heute eh nicht mehr nach Hause. Aber wir müssen Bescheid geben, dass du wieder da bist." Er runzelte die Stirn. "Könnte mächtigen Ärger geben, das ist dir schon klar, oder?"
Samuel winkte ab. "Das nehme ich in Kauf. Auf ein Pfund mehr kommt es jetzt nicht mehr an. Sag, hast du auch die Telefonnummer von Molla oder von Agathe? Die machen sich ganz bestimmt große Sorgen."
"Ja, die habe ich."
Wolfgang rief auf Klein Welzin an und erklärte in sehr bestimmtem Ton, dass es dem Ausreißer bestens gehe, dass es nicht nötig wäre, einen Krankenwagen zu schicken und dass Herr Rubenstein sich verbitte, wie ein Kleinkind behandelt zu werden. Schließlich sei er noch Herr seiner fünf Sinne. Dann wählte er eine weitere Telefonnummer und reichte das Handy Samuel. "Dein Ältester, Josh", murmelte er.
Samuels Herz dehnte sich, als er die Stimme seines Sohnes hörte. Er entschuldigte sich wortreich dafür, die Familie beunruhigt zu haben, und bat darum, dass sie ihm verzeihen mögen. Josh nahm ihm das Versprechen ab, nie wieder einen solchen Unfug zu machen. Samuel reichte das Handy zurück.
"Gut, und jetzt noch Molla ..." Wolfgang wählte die Nummer und lauschte, dann schüttelte er bedauernd den Kopf. "Der Empfänger ist nicht erreichbar. Möglicherweise haben sie kein Netz."


21.12.2015 - erzählt von Heike Schulz

Sie marschierten im Gänsemarsch Richtung Wald. Samuels Spuren und sein Schneeengel waren längst von einer neuen Schneedecke überzogen, und so hatten sie keinerlei Anhaltspunkte, bis auf Mollas Bauchgefühl, das ihnen als Wegweiser diente. Zielstrebig marschierte sie voran, führte sie beherzt durch das Unterholz, an Baumstümpfen mit weißen Zipfelmützen vorbei, durch eisverkrustete Hohlwege und über erstarrte Tümpel, die unter ihren Schritten gefährlich knirschten.
Wie lange bleiche Finger zuckten die Strahlen ihrer Taschenlampen über die Schneedecke, die hier unter den Bäumen nicht ganz so dick war wie auf freiem Feld. Ab und zu kreuzte eine Tierspur ihren Weg, und eine der Fährten erinnerte Amelie an die Wolfssichtungen, von denen sie gehört hatte. Anton meinte zwar, dass die breiten Pfotenabdrücke mit den Krallenspuren an den Vorderseiten von streunenden Hunden stammten, aber das mulmige Gefühl in ihrer Magengrube wollte sich nicht auflösen. Bei jedem Rascheln im Geäst, beim allerkleinsten Flüstern in den Zweigen zuckte sie zusammen, und als sich Nils' Hand in ihre schob, wusste sie nicht so recht, wer da wem Trost spendete.
Wie es dem alten Samuel wohl gerade ging? Amelie war sich sicher, dass ihm nichts Schlimmes zugestoßen war, aber er hatte keinen kleinen Bruder, an dem er sich festhalten konnte, und keinen Anton, der ihm mit einer gnädigen Lüge die Angst zu nehmen versuchte. Er hatte nichts weiter als den bleichen Mond hoch oben am Himmel und die Sterne, die über ihn wachten.
"Wir müssen ihn unbedingt finden", wollte sie gerade zu Molla sagen, als sie es hörte. Das Blut in Amelies Adern verwandelte sich in Eiswasser.
Ein schrecklicher, lang gezogener, kehliger Laut.
"W...was war d...das?", stotterte Nils und umklammerte Amelies Hand noch fester.
"Ach, das war bloß der Wind", beeilte Anton sich zu sagen, doch für Amelies Geschmack kam seine Antwort einen Tick zu hastig.
"Komisch, es ist doch völlig windstill", wunderte sich Nils und sah Amelie mit großen Augen an. "Ami? War das ein W..."
"Ach Quatsch, du Dummkopf!" Amelie tippte sich an die Stirn. "Denkst du, wir sind hier bei Rotkäppchen?" Sie schüttelte den Kopf und tat, als würde sie sich über ihn lustig machen, aber Nils war nicht überzeugt. Sein Blick wanderte zu Oma Agathe, die ihm die Taschenlampe abnahm und nach seiner anderen Hand griff. Die Sorgenfalten auf ihrer Stirn blieben trotz ihres aufmunternden Lächelns, mit dem sie ihn bedachte.
"Komm, Nils. Erzähl der Oma doch mal, was du dir vom Christkind wünschst", lenkte sie seine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung, und für eine Weile zählte er alle möglichen Star Wars-Helden auf, bis erneut ein unheimliches Heulen die Stille zerriss.
Diesmal täuschte keine Schwindelei mehr darüber hinweg, dass ihnen ein Wolf folgte. Ein Wolf, der ganz eindeutig näher kam.
In einer stummen Übereinkunft beschleunigten sie ihre Schritte, wobei die Erwachsenen Amelie und Nils eng zwischen sich nahmen.
"Da entlang", bestimmte Molla und deutete auf einen schmalen Pfad, der sich eine kleine Kuppe hinauf schlängelte.
Hastig stolperten sie voran. Im Gehen hob Anton einen starken Ast auf und hielt ihn wie einen Degen vor sich. Amelie schluckte.
Auf der anderen Seite der Kuppe führte Molla sie zu einem flachen Bachbett. "Hier herunter."
Wieder heulte es, viel näher jetzt.
Nils wimmerte leise vor sich hin, und Oma Agathe flüsterte unaufhörlich auf ihn ein.
Hinter einer Biegung versperrte ein umgestürzter Baum ihnen den Weg. Molla biss sich auf die Unterlippe und spähte über die Schulter.
Hinter ihnen raschelte es im Gestrüpp.
"Dort!" Molla wies nach links. Anton hakte sie an der linken Seite unter, Amelie rechts. Gemeinsam kletterten sie aus dem Bachbett und bahnten sich ihren Weg durch ein Kieferndickicht.
Täuschte Amelie sich, oder hörte sie schräg hinter sich ein Hecheln?
"Schnell weiter!", rief sie den anderen zu.
Da knurrte doch etwas!
"Lauft, Kinder!", rief Oma Agathe mit Panik in der Stimme.
Anton packte seinen Knüppel fester. Kalte Entschlossenheit funkelte in seinen Augen.
Nils weinte.
"Wohin?", schrie Amelie und suchte verzweifelt Mollas Blick.
Molla schaute sich grimmig nach allen Seiten um, da erhellte sich plötzlich ihre Miene. "DA!"
Gemeinsam rannten sie los und schafften es gerade noch rechtzeitig in die winzige Hütte, deren warm erleuchtetes Fenster ihre Rettung war. Von innen betrachtet sah die Behausung beinahe wie ein Hexenhäuschen aus, und die alte Frau, die sie freundlich begrüßte, wie die dazu gehörige Hexe. 


20. Dezember - erzählt von Angelika Lauriel

"Die Prophezeiung?" Das Wort beunruhigte Samuel, weil er ahnte, dass es ihm etwas abverlangen würde. Hatte ihn sein Gefühl heute morgen also nicht getrogen, es wartete etwas auf ihn. Eine Aufgabe, eine Pflicht, die zu erfüllen war? Oder eine Prophezeiung? "Was meinst du damit, Lukretia?"
Sie rieb sich das Kinn und sah ihn lange an, dann zuckte sie mit den Schultern. "Du weißt es nicht? Kennst du die Legende der Engel nicht? Und ich dachte ..." Nachdenklich blickte sie zur Seite.
"Meinst du dieses Märchen? Aber das ist doch nichts weiter als eine erfund..."
"Sag es nicht", schnitt sie ihm das Wort ab und machte eine herrische Geste mit dem Zeigefinger. "Du sitzt hier vor mir, hältst den Engel in der Hand und willst mir allen Ernstes weismachen, dass du nicht glaubst, es ist wahr?" Sie schüttelte den Kopf. "Du enttäuschst mich, Samuel", sagte sie in mildem Ton. Ihre hellblauen Augen bekamen einen grünlichen Schimmer. Plötzlich streckte sie die Schultern durch, und das Grün und Blau ihrer Iris durchmischte sich mit hellen Grau. Samuel sah nur noch diese Augen, die alterslos wirkten, tief wie Seen und leuchtend wie ein Gewitterhimmel. Eine eigenartige Stimme erklang plötzlich aus Lukretias Körper, sie bewegte die Lippen dabei kaum, und ihr Gesicht wurde glatt wie das eines ... 'Engels', dachte Samuel für eine Sekunde.
"Erlösung wird es geben, wenn wir uns selbst auflösen, wenn der, der Hilfe sucht, sie auch findet. Wenn der Mensch dem Suchenden Hilfe gewährt, kommt die Wahrheit ans Licht. Es findet zusammen, was zusammen gehört."
Der eigenartige Nachhall ihrer Worte verlor sich wieder, Lukretias Gesicht überzog sich erneut mit den Falten, die von einem fröhlichen Geist sprachen, und nach einem Zwinkern wirkten auch ihre Augen wieder normal. Ein verschmitztes Lächeln lag auf ihren Zügen. "Hoppla", sagte sie, "das habe ich ja schon ewig nicht mehr erlebt. Was habe ich gesagt?"
"Ähm, du hast von Erlösung gesprochen", stotterte Samuel, "von Auflösung, Hilfe suchen und finden, und dass die Wahrheit ans Licht kommen muss." Er atmete tief durch. "Es findet zusammen, was zusammen gehört."
Lukretia klatschte in die Hände. "Siehst du, und das ist ja schon mal passiert, weißt du?"
"Meinst du ...?" Er grübelte einen Moment nach. "Du meinst den Mauerfall, oder?"
"Ja, aber das ist nicht die einzige Geschichte, die beweist, dass diese Prophezeiung wahr ist. Selbst in der größten Not, wenn wir glauben, dass die Erde wirklich vor die Hunde geht, ist es möglich, doch nochmal alles zu drehen."
"Du meinst, mit Beten oder so? An Weihnachten oder einem anderen hohen Feiertag?"
Lukretia lachte hell auf. "Wenn du ein besonderes Datum dafür brauchst, bitte. Ich habe es nicht so mit imaginären Freunden." Sie stockte. "So drückt es meine liebste Freundin Heike immer aus ... Aber natürlich hängt alles in einem großen Zusammenhang. Nenn ihn Gott, wenn du willst. Andere haben andere Namen dafür."
"Welcher Religion gehörst du denn an; ich dachte, du bist Jüdin?"
"Nein, mein Lieber, ich bin sozusagen gemeinfrei. Ich glaube an die Erde. An die Liebe. An den Menschen, wenn er sich auf sich selbst zurück besinnt."
Samuel grinste zufrieden. "Verstehe."
Lukretia streckte den Finger aus und deutete auf seine Brust. "Und nun, wie hast du es mit der Wahrheit?"
"Ich weiß nicht; mit welcher Wahrheit?"
"Na ja, der Wahrheit, die ans Licht kommen muss", schlug Lukretia vor.
Samuel schüttelte bedächtig den Kopf. "Da gibt es nichts. Ich habe keine Geheimnisse. Nicht mehr." Er räusperte sich. "Oder genauer gesagt, ich habe heute der Wahrheit ins Gesicht geblickt, nach vielen Jahren."
"Lass hören!"
Und er erzählte Lukretia die lange Geschichte seines Lebens, ließ nichts aus und ließ es zu, dass ihm bei der einen oder anderen Episode die Tränen die Stimme stocken ließen.
Als er geendet hatte, nickte sie, dann griff sie nach dem Engel, den Samuel erneut auf den Tisch gestellt hatte. "Und du hast das Geheimnis des Engels - ich meine, deines Engels - nicht gelöst?"
"Nun, ich habe ihn ja der kleinen Agathe geschenkt, und es war eine gute Wahl, ihn dortzulassen. Ihre Familie hat mich gerettet, als ich mich vor der Wehrmacht verkroch."
"Dann will ich dir auch eine Geschichte erzählen. Denn obwohl ich, wie du sehr richtig erkannt hast, nicht leicht zu finden bin, sind mir doch in all den Jahren einige Dinge zugetragen worden. Es gab diesen jungen Mann, der kurz vor seiner Hochzeit deportiert wurde. Mit vielen anderen Juden wurde er in einen Zug gepfercht, der in Richtung Polen fuhr. Er trug nichts bei sich als einen Pappkoffer und einen Karton, den er unter den Arm geklemmt hatte. Im Zug redeten sie von einem Lager. Niemand wusste Genaues, aber alle hatten Angst. Ein kleiner Junge, Schmuel, griff nach der Hand meines Onkels und sah mit großen Augen zu ihm auf. Er fragte ihn, ob er schreiben könne. Mein Onkel nickte, der Junge gab ihm ein Stück Papier und einen Stift und bat ihn, eine Botschaft aufzuschreiben.
'Was für eine Botschaft?', fragte Onkel.
'Hilfe', war Schmuels Antwort.
Das tat Onkel, und dann dachten beide darüber nach, wie sie die Botschaft hinaus schicken konnten. Schließlich öffnete Onkel den Karton und zeigte Schmuel den Engel.
'Er hat besondere Kräfte, weißt du? Das hat mir die Großtante erzählt, die ihn mir gegeben hat. Eigentlich sollte er ein Hochzeitsgeschenk für meine Frau werden. Aber ich glaube, er hat nun doch eine andere Aufgabe.'
Schmuel faltete seine Botschaft und rollte sie zusammen, bis sie in das Röhrchen passte, mit dem man den Engel auf einen Kerzenständer oder etwas ähnliches stecken konnte. Sie dachten schon, dass sie die Botschaft doch nicht hinausschicken konnten, aber in der Nacht hielt der Zug einmal an. Man öffnete die Tür - es war ein Viehkarren, kein Waggon, mit dem Menschen normalerweise reisten - und Onkel und Schmuel schafften es, den Karton mit dem Engel unbemerkt hinauszuwerfen." Lukretia lehnte sich zurück. "Das ist ein Teil der Wahrheit, die du noch nicht kanntest."
Samuel liefen die Tränen über die Wangen. "Das bedeutet, dass die Botschaft nie angekommen ist. Wenn sie in Auschwitz gelandet sind ..." Ihm brach die Stimme.
"Dann hat die Botschaft heute eine andere Bedeutung, denkst du nicht auch, Samuel?" Ihre Stimme war sanft und wirkte beruhigend auf ihn. Sie stand auf, zog aus einem der unteren Regalfächer einen Karton hervor und öffnete ihn. Sorgsam nahm sie mehrere Lagen Seidenpapier heraus und wickelte den Porzellanengel damit ein, legte ihn in den Karton und verschloss ihn. "Bitte sehr, er muss dir gehören." Mit diesen Worten reichte sie Samuel die Kiste. "Nun musst du dich anziehen, wenn dir deine warme Kleidung wichtig ist." Mit diesen rätselhaften Worten ging sie zur Garderobe und half ihm dabei, sich wieder in die Heitek-Kleidung zu packen. Dann schob sie ihn behutsam und doch nachdrücklich zur Tür, drückte ihm den Karton mit dem Engel wieder in die Hand und küsste ihn zum Abschied auf die Wange. "Es ist nicht mehr dunkel, siehst du?" Sie deutete auf den sternenklaren Himmel, von dem hell der fast volle Mond leuchtete.
Samuel ging zwei Schritte von der Hütte weg, dann drehte er sich um, um sich bei Lukretia zu bedanken. Doch wo die Blockhütte gestanden hatte, war nun nur verschneiter Wald zu sehen. Das Mondlicht brach sich im Schnee.
"Der Engel hat sich aufgelöst", murmelte Samuel und hielt die Pappkiste fest an sich geklammert. Glück war es, was er dabei empfand.


19. Dezember - erzählt von Heike Schulz

Der Suchtrupp mit Hunden war schon seit Stunden unterwegs, und obwohl es inzwischen dunkel geworden war und es zu schneien begonnen hatte, wollten sie nicht aufgeben.
"Seine Familie ist informiert, aber er hat sich nicht bei ihnen gemeldet", erklärte eine Dame mittleren Alters, die sich ihnen als Heimleitung vorgestellt hatte. "Wir haben sie gebeten, zu Hause zu bleiben, falls er doch noch bei seinen Kindern oder Enkeln auftaucht." Die Frau runzelte die Stirn und sah sie alle der Reihe nach an. "Dabei habe ich übrigens erfahren, dass Herr Rubenstein gar keine Cousine und auch keinen Vetter hat. Können Sie mir mal erklären, wer Sie überhaupt sind?"
Molla rutschte auf ihrem Sessel unruhig herum. Die anderen Bewohner des Heims waren längst zu Bett gegangen, und so hatten sie die gemütliche Polstersitzgruppe im Gemeinschaftsraum ganz für sich alleine. "Ertappt", stimmte Molla nickend zu. "Ich bin weder seine Cousine, noch ist dieser Herr hier sein Vetter."
"Und wir sind auch nicht verheiratet", ergänzte Anton und deutete auf Oma Agathe, die bedauernd die Schultern hob.
"Ist an Ihrer Geschichte überhaupt irgendetwas wahr?", fragte die Frau kopfschüttelnd.
"Ja!", meldete sich Nils, der sich neben Oma Agathe zusammengerollt hatte. "Das hier ist wirklich meine Oma, und Ami ist meine echte Schwester!"
"Na, immerhin", entfuhr es der Frau, worauf Nils stolz grinste.

"Und wer sind Sie jetzt tatsächlich?"
Molla richtete sich auf, seufzte tief und begann zu erzählen. Die Frau hörte mit immer größer werdenden Augen zu, und als Molla schließlich endete, starrte die Frau sie verblüfft an.
"Donnerwetter, das ist ja die herzergreifendste Geschichte, die ich je gehört habe. Und ich höre hier jede Menge herzergreifender Geschichten! Haben Sie irgendeine Ahnung, wohin Samuel gegangen sein könnte?"
"Vielleicht ist er einfach nach Hause gegangen?", schlug Amelie vor. Das war es jedenfalls, was sie an seiner Stelle gemacht hätte.
"Da haben wir bereits nachgesehen", erklärte die Heimleiterin. "Aber der Mann von gegenüber, Herr Breitenbach, hat sich bereit erklärt, die Nacht im Haus seiner Großeltern zu verbringen und die Straße zu beobachten. Er wird uns informieren, sobald sich Samuel dort blicken lässt. Du meine Güte, wenn ihm etwas passiert ist, nicht auszudenken!"
"Keine Sorge, ihm ist nichts passiert", erklärte Oma Agathe im Brustton der Überzeugung. "Er ist ziemlich einfallsreich und hat schon Schlimmeres überstanden, nicht wahr, Molla?"
Molla nickte mit Nachdruck. "Ja, richtig. Er ist ein Überlebenskünstler. Das war er immer schon."

Amelie wünschte sich, genauso zuversichtlich zu sein, aber es gelang ihr nicht. Ein uralter Mann, mitten im Winter alleine im Wald, da konnte vieles geschehen. Vielleicht war er gestürzt und lag hilflos in irgendeiner Schneeverwehung? Bei der Kälte ohne Dach über dem Kopf würde er sich den Tod holen! Gab es eigentlich gefährliche Tiere hier in dieser Gegend? Hatte sie nicht in der Zeitung gelesen, dass in Ostdeutschland Wölfe wieder heimisch geworden waren?
Von Unruhe gepackt schlug sie die Wolldecke zurück, setzte sich auf und schlüpfte in ihre Stiefel.
"Sag mal, Amelie, was machst du denn da?", fragte Oma Agathe und hielt sie am Arm zurück.
Amelie suchte ihre Jacke und schlüpfte hinein. "Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber mir fällt die Decke auf den Kopf. Ich kann sowieso nicht schlafen, dann kann ich auch genauso gut nach Samuel suchen." Sie zog den Reißverschluss bis unters Kinn und sah die anderen herausfordernd an.
"Aber Kind, es ist stockdunkel da draußen, und der Suchtrupp kennt sich viel besser aus. So lieb du es auch meinst, du kannst nicht viel helfen", warf die Heimleiterin ein.
"Doch, kann ich!", rief Amelie. "Ich habe gute Augen und werde bestimmt nicht die ganze Nacht hier herumsitzen, während Samuel da draußen ganz alleine ist!" Trotzig sah sie die anderen an. Sie fühlte sich nicht halb so mutig, wie sie zu sein vorgab, und als Nils ebenfalls aufsprang und in seine Stiefel stieg, hätte sie ihn am liebsten geknutscht.
"Ja, ich komme mit!", rief er, worauf die Frau entsetzt nach Luft schnappte.
Anton rieb sich die Hände. "Ich bin dabei!", rief er. "Ein zusätzliches Paar Augen kann nicht schaden."
"Dann wäre das beschlossene Sache", stimmte Molla zu und erhob sich ächzend.
"Gute Frau, haben Sie vielleicht ein paar Taschenlampen, die Sie uns zur Verfügung stellen könnten?", fragte Oma Agathe die Heimleiterin, und wickelte sich ihren Schal um den Hals.
"Eine Kanne heißer Tee wäre auch nicht schlecht", ergänzte Anton.
Das Protestgestammel der Frau ignorierend, schlüpften alle wieder in ihre warme Winterkleidung, und als die Heimleiterin erkannte, dass sie sie nicht aufhalten konnte, hob sie ergeben die Hände und führte sie in die Küche. Rasch setzte sie eine Kanne Tee auf, schmierte ihnen ein paar Butterbrote und suchte für jeden eine Taschenlampe aus dem Schrank.
"Und Sie sind sich ganz sicher, dass Sie das tun wollen?", fragte sie, als sie die Sachen in eine Tasche packte. "Frau Molla, Sie in Ihrem Alter ..."
"Ich habe mich seit Ewigkeiten nicht mehr so jung gefühlt!", unterbrach Molla sie und tätschelte die Schulter der Frau. "Machen Sie sich keine Sorgen, wir wissen ganz genau, was wir tun."
Als sie aus der Tür traten, hatte es zu schneien aufgehört. Die Wolken rissen auf und der Mond ließ die unberührte, neue Schneedecke wie Diamantstaub funkeln.
"Wir rufen an, wenn wir ihn gefunden haben", versprach Amelie, dankte der Frau für ihre Hilfe und trat in die Nacht hinaus.  


18.12.2015 - erzählt von Angelika Lauriel

Ach verflucht, er hatte sich verlaufen! Kaum zu glauben, aber der alte Samuel Rubenstein hatte in seiner Heimat, die er doch von Kindesbeinen an wie seine Westentasche kannte, die Orientierung verloren. Nachdem er zwischen die Bäume gegangen war, um schnell außer Sichtweite zu kommen, hatte er offenbar nicht mehr darauf geachtet, wie tief er in den Wald hinein ging. Schon sehr bald war er einem Pfad gefolgt, den er einigermaßen gut erkennen konnte. Im dichten Wald wurde der Schnee von den Ästen der Bäume aufgefangen, und nur eine dünnere Schicht bedeckte den Boden. Sie lag wie zentimeterdicker Puderzucker auf den Steinchen und den vertrockneten Nadeln und Blättern. Der Schnee sorgte allerdings dafür, dass es nicht so rasch dunkel wurde, weil er auch das wenige Licht reflektierte, das an um diese Nachmittagszeit noch zwischen den Bäumen hereinfiel. So bemerkte Samuel kaum, wie die Dunkelheit hereinbrach.
Und nun stand er vor einer Weggabelung und wusste nicht, in welche Richtung er musste. Um sich herum konnte er nichts als Wald sehen - einen Wald, der nun doch mehr Schatten als Licht enthielt, und als Samuel zwischen den Baumkronen hinauf in den Himmel blickte, wurde ihm klar, dass er in einer äußerst misslichen Lage war. Wie hatte er so dumm sein können, am späten Nachmittag mitten im Winter wegzulaufen - zu Fuß, ohne jemandem Bescheid zu geben?
"Du alter Narr", schalt er sich selbst. Dann fiel ihm ein, dass er doch dieses Handy besaß. Sein ältester Sohn, Josh, hatte es ihm geschenkt. Es hatte extra große Tasten - "für Senioren", damit er es leicht bedienen konnte. Erleichtert zog er es aus der Tasche der Skihose und drückte auf die Taste, mit der es sich einschalten sollte. Nichts. Samuel zog den Handschuh aus und versuchte es ein zweites Mal, vergeblich. Er meinte, die Stimme seines Enkels zu hören, der ihm genau erklärt hatte, wie er das Handy benutzen musste. "Und vergiss nicht, dass du es aufladen musst, Opa, hörst du?"
Ach, verflucht! Natürlich hatte er es vergessen. Deshalb tat das Ding keinen Mucks. Samuel schob es zurück in die Jackentasche. Er sah sich nochmal den Himmel an, den letzten Streifen Licht, und beschloss endlich, den linken Weg zu wählen. Seine Schritte verlangsamten sich mit der zunehmenden Dunkelheit. Würde er in diesem Wald übernachten müssen? Würden die hochmodernen Kleider ihn vor dem Erfrieren bewahren? Samuel war zu alt, um die Angst übermächtig werden zu lassen. Es hieß, dass man beim Erfrieren keine Schmerzen hatte. Man schlief einfach ein. Wie lange er einen Fuß vor den anderen setzte, wusste er am Ende nicht. Aber nachdem er nicht mehr erkennen konnte, ob er noch auf dem Weg war, setzte er sich einfach auf den Boden und ließ sich langsam nach hinten sinken. Er fror nur an der Nase, alles andere war warm. Wenn es ihm gelang einzuschlafen, würde er vielleicht einfach nicht mehr aufwachen, und dann war ja auch alles gut. Es tat ihm nur leid um seine Familie, die nun nicht mehr von ihm gehört hatte. Weihnachten würde dieses Jahr traurig für sie sein ...

"Samuel, nun mach dich nicht so schwer." Eine angenehme Frauenstimme, alterslos. Er spürte, dass Hände sich unter seine Achseln schoben und jemand ihm auf die Beine half. Dann saß er auf einer weichen Unterlage, sein Rücken gegen Fell gelehnt. Wie viel Zeit danach verging, bevor er wieder zu sich kam, wusste er nicht, aber eine kleine Frau hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt und stützte ihn. "Bitte setz jetzt mal einen Fuß vor den anderen, Samuel. Du bist noch nicht tot. Und so tattrig, wie du dich gerade gibst, bist du auch nicht." Er gehorchte, streckte den Rücken durch, um die Person zu entlasten, und tappte auf das Hexenhäuschen zu, das er vor sich sah. Eine stabile Blockhütte, hinter deren Fenster er warmen Lichtschein erkennen konnte. Aus dem Schornstein kräuselte sich eine Rauchfahne in den Nachthimmel. Das musste die Einsiedlerkate sein, von der er schon so oft gehört hatte. Seine Kinder hatten gelacht, wenn die Rede darauf kam. Alles nur ein Märchen, hatte es geheißen. Nur sehr selten war es vorgekommen, dass jemand behauptete, die Hütte und die Frau, die darin lebte, gefunden zu haben. Wenn derjenige wieder zu ihr wollte, fand er den Weg nicht mehr.
"Bitte, setz dich schon mal. Ich muss meine treue Polly versorgen." Das Pferd schnaubte, als es seinen Namen hörte.
Samuel trat in die Hütte hinein, zog Mütze, Handschuhe und Jacke aus, hängte alles an die Garderobe, die aus zwei einzelnen Haken bestand, und sah sich um. Ein Raum, der durch eine Art Pergola unterteilt war, hinter der sich offenbar das Bett verbarg. Ein Kamin, in dem ein Feuer flackerte, ein Tisch mit nur zwei grob gezimmerten Stühlen. Ein altmodischer Herd, daneben eine Spülmaschine. Eine Tür ging vermutlich zu einem kleinen Badezimmer ab. Ob die Frau fließendes Wasser und Strom hatte? Er tippte sich an die Stirn. Musste sie ja, wenn sie eine Spülmaschine besaß.
Ein greller Pfeifton erfüllte plötzlich die Hütte. Samuel trat zu dem Herd und schob den Kessel, der den Ton ausstieß, zur Seite, stellte die Herdplatte aus. Dann sah er die Kanne, die bereits vorbereitet war, und goss den Tee auf. Sofort erfüllte ein Duft nach Zimt und Ingwer den kleinen Raum. Als Samuel die Kanne mit dem Deckel verschloss, damit der Tee besser ziehen konnte, öffnete sich auch schon die Tür, und die Person, die ihn gerettet hatte, trat ein.
Endlich konnte er sie genauer betrachten. Sie war klein, ihre langen, grauen Haare hingen in einem fest geflochtenen Zopf bis zu ihrem Gürtel herunter. Sie hängte ihre dicke Steppjacke neben Samuels Kleider an die Garderobe, dann kam sie heran. Als sie ihn anlächelte, enthüllte sie eine große Zahnlücke, und Runzeln malten ein lustiges Muster auf ihre Wangen. Trotzdem sah Samuel, dass sie jünger war als er selbst. Sie mochte Ende siebzig sein. Wie Agathe Anselm, schoss es ihm durch den Sinn.

"Na, da bist du dem Teufel gerade wieder von der Schippe gesprungen, mein Lieber." Mit einer einladenden Geste forderte sie ihn auf, am Tisch Platz zu nehmen. "Danke, dass du den Tee für uns aufgegossen hast." Sie schenkte ihm und sich in die bereitstehenden Tassen ein. "Und nun erzähl, was dich zu mir führt."
"Ich wollte gar nicht zu dir, sondern nach Gottesgabe ..."
"Papperlapapp. Wer mich findet, der hat mich auch gesucht. Oder etwas anderes, wobei ich ihm helfen kann. Ich bin Lukretia, und ich wette, du hast schon von mir gehört."
Samuel nickte, unterdrückte ein plötzliches Kichern, das ihm das Herz leicht machte, nachdem er begriff, dass er tatsächlich dem Tod entgangen sein mochte, und ließ seine Blicke schweifen. Lukretias Hütte war voller Regale, die überfüllt waren mit Büchern, Töpfen, Tiegeln und allerhand Gegenständen, die er auf den ersten Blick nicht einsortieren konnte. Puppen sah er, Holzspielsachen, Heiligenfigürchen, Keltensymbole aus Holz oder Metall, und dann blieb sein Blick an etwas hängen, das ihm das Herz höher schlagen ließ. Mitten zwischen den heidnischen Gegenständen sah er einen leuchtend hellen Engel aus Porzellan. Er hatte die Schwingen ausgebreitet und die Hände ausgestreckt, als wolle er jemanden zu sich einladen. Sein Gewand war mit winzigen goldenen Sternen übersät, und im Saum sah Samuel ein verschlungenes Muster, das beinahe so wirkte, als bilde es ein Wort.
Lukretia war seinem Blick gefolgt. "Aha ...", sie kicherte. "Dachte ich es mir doch. Früher oder später musste jemand kommen, der ihn suchte." Sie stand auf und streckte sich hoch, um nach der Figur zu greifen. Dann setzte sie sich zu Samuel und hielt ihm den Engel hin. "Er ist ein Zwilling, weißt du? Ich habe ihn geerbt. Mein Onkel besaß den zweiten." Ihr Lächeln wurde wehmütig. "Eine entfernt verwandte Großtante hat ihn ihm geschenkt. Damals, als er fliehen musste. Er hatte diesem Land schon im ersten Weltkrieg gedient. Und im zweiten zählten sein Leben und seine Treue plötzlich nichts mehr. Er war Jude, und das war sein Todesurteil."
Samuels Hals wurde eng. "Wie kommt es, dass du diesen zweiten Engel besitzt?"
"Meine Mutter bekam den zweiten Engel, sie hat ihn mir vererbt." Ein Schatten zog über Lukretias Gesicht. "Sie veränderte sich, nachdem mein Onkel nie mehr auftauchte, und ich zog mit ihr hierher. Das habe ich niemals bereut." Lukretia schenkte sich und Samuel eine zweite Tasse Tee ein. "Aber ich glaube, jetzt ist es Zeit, die Prophezeiung zu erfüllen, richtig?"
Samuel erschrak.


17. Dezember - erzählt von Heike Schulz

Als Molla endete, füllte bewegtes Schweigen den Raum. Der Kaffee in den Tassen war kalt geworden, und auf der Milch in Amelies Becher hatte sich eine feine Haut gebildet.
"Du hast Samuel nie wieder gesehen?", fragte Anton und legte seine Hand auf Mollas.
Molla schüttelte den Kopf. "Nein, und es war auch gut so. Er hat das getan, worum ich ihn gebeten hatte, hat geheiratet und Kinder in die Welt gesetzt. Das wiegt mein Opfer mehr als auf, findest du nicht?" Sie zwang sich zu einem Lächeln und sah zu dem fremden Mann auf. "Ihm ist es gut ergangen, habe ich Recht?"
Der Mann nickte. "Ja, er hat einen Sohn und eine Tochter, und lassen Sie mich mal überlegen ... sechs Enkel und sogar schon Urenkel. Der alte Samuel hat wirklich dafür gesorgt, dass seine Familie weiter besteht."
Molla lachte. "Na siehst du, mein lieber Anton. Kein Grund zur Traurigkeit."
Amelie sah die alte Frau nun mit anderen Augen. Sie kannte sie zwar erst seit ein paar Tagen, doch hatte sie den Eindruck gehabt, dass sie anscheinend stets auf der Sonnenseite des Lebens gestanden hatte. Allmählich wurde ihr klar, dass es beileibe nicht so war, aber dass das Schicksal es nicht geschafft hatte, ihren Lebensmut und ihre Frohnatur zu brechen. Ihre Zuneigung zu Molla wuchs mit jedem Atemzug, und  ehe sie so recht wusste, was sie tat, warf sie sich Molla in die Arme und drückte ihr einen Kuss auf die runzelige Wange.
"Für was ist der denn?". lachte Molla und sah sie entgeistert an.
"Ach, einfach so", antwortete Amelie uns spürte, wie sie bis zu den Haarspitzen errötete.
"Und warum bist du jetzt berühmt?", wollte Nils wissen.
"Ganz einfach", antwortete der Mann, der inzwischen gar nicht mehr so fremd war. "Molla hatte damals in unserem Dorf für großes Aufsehen gesorgt. Eine junge, schöne Frau aus der Stadt, die sich anschickte, die zukünftige Frau Rubenstein zu werden. Sie war hier sehr beliebt, kümmerte sich um die vom Krieg traumatisierten Kinder, half, wo sie konnte und hatte für jeden ein freundliches Wort übrig. Und dann, vom einen Tag auf den anderen war sie verschwunden. Aus Samuel war nichts herauszubekommen, der schwieg sich aus und trauerte. Von da an rankten sich allerlei Gerüchte um Molla, die mit den Jahren zu Legenden wurden. Manche behaupteten sogar, sie sei ein Engel gewesen, der zu uns geschickt worden war, um die Wunden des Krieges zu heilen, und dann, als das Werk getan war, einfach verschwand."
Amelie gluckste, als sie das hörte. Ein leibhaftiger Engel. Ja, nee, schon klar.
"Vergiss nicht, wie unser Dorf heißt", erinnerte der Mann sie. "Gottesgabe. Die Menschen hier ticken anders und glauben an solche Geschichten. Glaubst du denn nicht daran, dass alles gut wird, wenn du es dir nur fest genug wünschst? Oder an das Christkind?"
Amelie überlegte. "Doch", antwortete sie fest. "Sonst könnte man sich ja gar nichts wünschen."
"Eben", stimmte der Mann zu und nickte lächelnd. "Ohne Hoffnung auf das Gute bräuchte man sich auch gar nichts wünschen. Wie traurig wäre das denn?"
Oma Agathe, die bis dahin still daneben gesessen hatte, reckte die Knochen. "Kinder, ich weiß ja nicht, wie es euch geht. Ich für meinen Teil würde ja gerne noch ein Weilchen mit unserem neuen Freund hier alte Geschichten austauschen, aber wenn wir noch ins Pflegeheim wollen, müssen wir allmählich los."
"Warten Sie, ich schreibe Ihnen die Adresse auf." Der Mann verschwand in der Küche und kehrte kurz darauf mit einem Zettel zurück. "Es ist nicht weit, vielleicht zwanzig Minuten Fahrt. Wenn Sie ihn sehen, grüßen Sie ihn von mir."
"Und von wem sollen wir Grüße bestellen?", fragte Anton, der den Zettel entgegen nahm.
"Ich heiße Wolfgang Breitenbach", antwortete der Mann und geleitete sie zur Tür.
"Ach ja!", entfuhr es Molla. "Ich habe die ganze Zeit schon darüber nachgegrübelt, wie die Leute von gegenüber hießen. Breitenbach. Ihr Vater war der kleine Sigi!"
Herr Breitenbach lachte. "So klein ist er nicht geblieben. Ich werde ihm von Ihnen erzählen, wenn ich ihn besuche. Da wird er sich freuen."
"Machen Sie das!"
Als Molla sich auf den Beifahrersitz neben Anton fallen ließ, wirkte sie beinahe wieder fröhlich. Die Begegnung mit Herrn Breitenbach hatte ihr trotz der damit verbundenen schmerzlichen Erinnerungen sichtlich gut getan. Aufgeregt wie ein junges Mädchen schaute sie aus dem Fenster, wies sie im Vorbeifahren auf Orte hin, die sie einst zusammen mit Samuel besucht hatte, und kletterte aus dem Wagen, kaum dass Anton ihn auf dem Parkplatz des Seniorenheims zum Stehen gebracht hatte.
"Guten Tag. Wir möchten gerne zu Samuel Rubenstein", verkündete sie der jungen Frau am Empfang und klopfte nervös mit den Fingerspitzen auf den Tresen.
"Aha. Gehören Sie zur Familie?" Die junge Frau schaute skeptisch vom einen zum anderen.
Amelie versuchte, sich hinter Anton zu verstecken. Drei von der Reise zerknitterte alte Leute, von denen die älteste die Wortführerin war, ein Mädchen und ein kleiner Junge, dem der Rotz aus der Nase lief - einen merkwürdigeren Anblick hätten sie der Frau kaum bieten können.
"Ja, natürlich", antwortete Molla, ohne mit der Wimper zu zucken. "Ich bin seine Cousine. Und das hier sind ..."
"Ich bin sein Vetter, und das hier ist meine Frau", kam Anton ihr zu Hilfe und zog Oma Agathe an sich, die leicht errötete.
"Ich bin Nils, das da ist Ami, und das hier ist unsere Oma", klärte Nils die Frau auf und zog die Nase hoch.
Die Frau ließ ihren Blick auf Nils ruhen, der sich wirklich alle Mühe gab, brav auszusehen, und nickte langsam.
"Also gut. Wenn Sie mir bitte folgen wollen?" Sie kam hinter ihrem Tresen hervor und bog nach links in einen Gang ab. Hier drinnen war es so stickig warm, dass Amelie ihre Mütze vom Kopf zog und den Reißverschluss ihrer Jacke öffnete. Es roch nach Kohl und Desinfektionsmitteln, und von irgendwo her dudelte "Ihr Kinderlein kommet ..."
Vor einer Tür mit der Nummer vierzehn hielten sie an, und die Frau klopfte.
"Herr Rubenstein? Besuch für Sie", rief sie, doch es antwortete niemand. Die Frau versuchte es erneut und drückte die Klinke herunter, als sich niemand meldete.
"Merkwürdig", entfuhr es ihr, als sie das Zimmer betraten. Das Bett war fein gemacht, die Pantoffeln standen in Reih und Glied darunter, und auf dem Sessel lag ordentlich zusammengefaltet ein Hausanzug. Vor dem Fenster stand ein Stuhl, über dem sich die Gardine im Luftzug bauschte. Von einer Vorahnung getrieben stürzte Amelie zum Fenster und schaute hinaus.
"Ach du ... Schande", rief sie, als sie Fußspuren, einen Schneeengel, und dahinter noch mehr Fußspuren sah. "Ich glaube, er ist getürmt."


16. Dezember - erzählt von Angelika Lauriel

Seit er am Morgen seine Erinnerungen zugelassen und die Flucht wieder erlebt hatte, im Geiste der kleinen Agathe Anselm und der unwiderstehlichen Molla begegnet war, seit er seine zweite Liebe, Susanne, und ihre gemeinsamen Kinder vor Augen gehabt und dann kurzentschlossen Karten für seine Enkel geschrieben hatte, war die Unruhe in Samuel gewachsen. Er fühlte sich eigenartig, fast so, als ob das Leben ihn aufrütteln wollte. Als ob da noch etwas zu erledigen wäre, bevor er endlich abtreten durfte.
Er war heute in den Essensraum zu den anderen gegangen - schon fürs Frühstück, und fürs Mittagessen wieder. Die anderen hatten ihm sofort angesehen, dass er sich lebendiger fühlte als in den letzten Wochen, wo er noch lange an einer simplen Wintergrippe herumlaboriert hatte, die ihm einfach nicht aus den Knochen hatte weichen wollen.
"Du siehst aus, als wärst du frisch verliebt", kicherte Klothilde beim Mittagessen. Sie war seine Flurnachbarin, mit der er zu Anfang oft und viel geredet hatte, wenn die anderen, senileren Mitbewohner längst in ihren Betten lagen und träumten. Aber selbst Klothilde hatte er nur das erzählt, was alle wussten. Er hatte sie nicht in sein Herz blicken lassen - nun, er blickte ja auch selbst nicht dorthin. Wozu hatte er seit Mollas letztem Besuch hart dafür gearbeitet, die Vergangenheit ruhen zu lassen?

Den Mittagsschlaf nutzte er, um weitere Erinnerungen aufzufrischen. Als zöge er sie aus einer Kiste hervor, die unter einer dicken Staubschicht nur darauf gewartet hatte, wieder geöffnet zu werden. Es rüttelte ihn auf und machte ihn wach. Es tat weh ... Nein, das tat es nicht. Es weckte die Sehnsucht in ihm. Damals, als er den Engel gefunden hatte, den wahrscheinlich ein anderer Jude auf der Flucht verloren hatte, war in ihm der Wunsch erwacht, die Geschichte aufzuspüren, die der Engel verbarg. Eine so wertvolle Porzellanfigur sah man nicht alle Tage. Es war sicherlich möglich, herauszufinden, wo solche Figuren hergestellt wurden. Vielleicht in Polen oder Tschechien, hatte er damals gedacht. Aber dann kam alles anders.
In seiner Zeit bei den Anselms wuchs ihm die kleine Agathe so sehr ans Herz, dass er nicht weggehen wollte, ohne ihr ein wertvolles Geschenk zu machen. Und der Engel war das Wertvollste, das er besaß. Agathe war damals kein Kind mehr gewesen, und er hatte schon nach ihrem zwölften Geburtstag bemerkt, dass sie ihn mit anderen Augen ansah als zuvor. Vielleicht war auch das ein Grund, zu gehen. Er wollte nicht mit erleben, wie das Mädchen zur Frau heranwuchs, und ihr wehtun, weil sein Herz längst nur einer Einzigen gehörte. Molla.

Samuel setzte sich im Bett auf und warf einen Blick auf den laut tickenden Wecker. Er hielt es nicht mehr aus. Die Mittagsruhe sollte noch über eine Stunde dauern. Er fragte sich, was er hier eigentlich tat? Lag da und verplemperte die letzten Jahre, die ihm noch geblieben waren. Er ging nur noch vor die Tür, wenn die Pflegerinnen ihn dazu aufforderten. Warum eigentlich? Bedächtig stand er auf und ging zum Schrank, öffnete ihn und betrachtete lange die Kleidung darin. Moderne Winterunterwäsche, die ihm seine Tochter vor drei Jahren mitgebracht hatte. Da hing die dicke Hose aus irgendwelchem "Heitek-Material", wie sein Sohn es genannt hatte, gleich neben der Skijacke. Seine Enkelin hatte ihm Schal und Mütze, seine Schwiegertochter die Fäustlinge - ebenfalls Heitek - hingehalten. Alle zusammen hatten ihn zu einem Winterurlaub eingeladen. Da hatte ihm dann der Blinddarm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Kleidung war quasi ungetragen.
Mit einem Bild vor Augen, wie er Molla vor vielen, vielen Jahren eine störrische Haarsträhne unter ihre selbst gestrickte Pudelmütze strich, begann er damit, seinen Hausanzug auszuziehen. Langsam packte er sich Schicht für Schicht in die modernen, winterfesten Sachen ein. Unablässig tanzten dabei die Bilder aus der Vergangenheit vor seinem inneren Auge, wie den ganzen Tag schon.
Samuel hielt inne, als er Mollas Worte hörte, die sie ihm ins Ohr flüsterte, nachdem sie sich geliebt hatten. "Wir werden ein Kind haben, Samuel!" Was für ein berauschender Moment in seinem Leben war das gewesen! Nie zuvor und nie danach hatte er größeres Glück empfunden. Ein Kind, aus ihm und Molla entstanden. Sie beide schmiedeten Pläne in jener Nacht. Wie sie es anstellen konnten, ein gemeinsames Leben aufzubauen. Hier, in der Deutschen Demokratischen Republik, oder doch im Westen Deutschlands. Molla sagte von Anfang an, dass sie nicht in einem sozialistischen Staat leben wolle, und dass sie den Politikern des Ostens noch weniger traute als denen des Westens. Samuel verstand sie. Beinahe waren sie so weit, Samuels Mutter mit in den Westen zu nehmen. Er würde sie schon überzeugen und die Erlaubnis zur Ausreise hoffentlich bekommen.
Und dann war das Unglück geschehen. Samuel schwankte leicht, machte zwei Schritte zurück und ließ sich auf das Bett sinken. Was für ein unglückseliger Sommer im Jahr 1962! Im Nachhinein schien es ihm, als hätte die Sonne damals aufgehört zu leuchten. Seit jenen Tagen war kein Sonnentag mehr so hell, kein Regentag mehr so farbenfroh und kein Schneetag mehr so strahlend weiß gewesen wie in den Jahren davor, als es Molla noch gegeben hatte in seinem Leben. Sie selbst hatte er nie wieder gesehen. Aus ihren Briefen, die nach und nach immer länger auf sich warten ließen, verschwand ein gehöriger Teil der Lebensfreude, die sie immer verströmt hatte.

Samuel öffnete die untere Schublade seines Nachtschränkchens, nahm einen alten, abgegriffenen Umschlag heraus und zog den Brief hervor. Geschrieben nach ihrer gemeinsamen, glücklichsten Zeit des Lebens, in jenem Sommer. Datiert auf den 13. September 1962. Wie oft hatte er gerade diesen Brief gelesen, wie oft ihn aufgefaltet und wieder zusammengelegt. Viele Tränen hatten die Schrift an manchen Stellen fast unleserlich gemacht.
"Samuel, Liebe meines Lebens, ich habe nicht nur unserem Kind das Leben nicht schenken können, sondern ich werde auch nie wieder ein Kind austragen. Ich gebe dich frei. Bitte versuch nicht, mich umzustimmen. Wähle Dir eine Frau und zeuge Kinder, schon um Deine Familie weiter bestehen zu lassen. Du bist der Letzte von vier Männern! Tu es mir zuliebe.
Ich werde Dich niemals vergessen, Du bist der Einzige für mich, aber ich verlange von Dir, dass Du Kindern ein Vater bist. Das bist Du nicht nur Deiner Mutter schuldig, sondern auch Dir selbst."
Diese Sätze las er nun wieder, und wie in all den Jahren, ließen sie ihm auch heute den Hals eng werden.
Und doch: Etwas war anders seit heute Morgen. Er musste etwas tun. Was es war, war ihm noch nicht klar, doch er würde mit einem einfachen Besuch beginnen. Er würde jetzt aus diesem Zimmer steigen - so wie der Schwede in diesem wunderbaren Roman, den Samuel gelesen hatte - und Susanne besuchen, auf dem Friedhof. Und seine Mutter. Die alte Nachbarin. Er wollte das Haus seiner Mutter sehen. Zur Post gehen und all seinen Enkeln ein Telegramm schicken. Agathe ein Telegramm schicken. Er wusste, dass sie Rupert mit Familienname hieß.
Und Molla. Er würde Molla ein Telegramm schicken. Und dann ... Nun, einen Schritt nach dem anderen.
Samuel zog die Mütze und die Handschuhe an, nachdem er die "Boots" gut verschlossen hatte, schob einen Stuhl zum Fenster und stieg darauf - ja, seine Knochen waren nicht so alt, wie die Jahre es vermuten ließen -, öffnete das Fenster und setzte sich auf die Fensterbank. Dann schwang er die Beine nach draußen und ließ sich vorsichtig hinunter, auf die mit Schnee bedeckten Blumen. Die würden sich bis zum Frühjahr wieder von seinem Gewicht erholt haben. Er zog das Fenster so gut zu, wie es ging, dann blickte er sich um, die Luft war rein, und unterdrückte ein aufgeregtes Kichern, als er über die unberührte Schneedecke zu den Bäumen tappste. Bevor er dazwischen verschwand, stieg es in ihm hoch. Die Freiheit, der Übermut, das Leben!
Er setzte sich auf den Hosenboden, mitten in den Schnee, legte sich vorsichtig nach hinten, streckte Arme und Beine aus und tat, was er schon seit vielen Jahren nicht mehr gemacht hatte: einen Schneeengel.
Erst dann machte Samuel Rubenstein sich aus dem Staub. Und sein Herz hüpfte vor Freude dabei.


15. Dezember - erzählt von Heike Schulz

Molla lag auf dem Sofa, die Wolldecke, die der freundliche Mann über sie ausgebreitet hatte, bis zur Nasenspitze hochgezogen, und blinzelte alle der Reihe nach bedauernd an.
"Es tut mir so leid, dass ich euch solche Umstände mache", seufzte sie. "So kenne ich mich gar nicht. Aber vielleicht ist das alles ein bisschen zu viel für mich."
Amelie tätschelte unbeholfen Mollas Haar und wusste nicht so recht, was sie nun machen sollte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass das alles ihre Schuld war. Hätte sie besser aufgepasst, wäre der Engel nicht zerbrochen, und dann würden Molla, Anton und ihre Oma jetzt gemütlich zu Hause sitzen, anstatt hier in diesem verschneiten Nest in einem muffig riechendem Haus, und den Geistern aus der Vergangenheit nachjagen. Der Lösung ihres Problems waren sie bei alldem nicht einen Millimeter näher gekommen, und nun war Molla auch noch aus den Latschen gekippt.
"Trotzdem, ich bin so froh, dass alles so gekommen ist, und ich meinen Samuel bald wiedersehen darf", setzte Molla hinzu und sah Amelie fest in die Augen.
Vermutlich hatte sie gemerkt, wie elend es Amelie wegen der ganzen Sache ging, und ihre Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Amelie zog die Nase hoch und fühlte sich nicht mehr ganz so mies.
"Dann erzählen Sie doch mal, wie Sie nach so vielen Jahren ausgerechnet jetzt, mitten im Winter, auf die Idee gekommen sind, den alten Samuel zu besuchen", fragte der fremde Mann und füllte die Kaffeetassen aus einer altmodischen Porzellankanne mit Tropfschutz unter den Ausgießer. Für Nils und Amelie hatte er zwei Becher Milch warm gemacht, und als Amelie daran nippte, lief eine wohlige Wärme durch ihren Körper.
"Also, das war so", begann Anton und erzählte mit Nils und Oma Agathes Unterstützung die ganze Geschichte von vorne. Während sie sprachen, wurde Molla allmählich wieder etwas munterer und setzte sich unter ihrer Wolldecke auf.
"Und nun möchten Sie von Samuel wissen, woher er den Engel damals hatte, und was es mit dem Hilferuf und dem Wort Erlösung auf sich hat", schlussfolgerte der Mann und rieb sich das Kinn. "Und wie soll Ihnen das bei ihrem Problem mit dem zerbrochenen Engel helfen?"
"Das wissen wir auch nicht", antwortete Amelie. "Aber ich weiß, dass das alles irgendwie miteinander zu tun hat. Das weiß ich einfach. Es muss so sein", setzte sie fast schon trotzig hinzu.
"Haben Sie denn jemals von der Legende gehört? Sie handelt von einem Engel, der sich aus Gram über die Kriege in der Welt in eine Porzellanfigur verwandelte. Da gab es eine Frau, die diesen Engel besaß und fest davon überzeugt war, dass er Wunderkräfte hatte. Sie schenkte ihn eines Tages einem traurigen jungen Mann, der seine Heimat verlassen hatte, um dem Tod zu entkommen. Der Engel sollte ihn vor Schaden bewahren."
Der Mann nickte. "Meine Großmutter hat mir davon erzählt. Eine hübsche Geschichte, nichts weiter, dachte ich als Kind. Was hat das mit Ihrem Engel zu tun? Sie glauben doch nicht, dass ..."
"Es gibt da diese Prophezeiung", fuhr Molla fort. "Es soll erst dann Erlösung möglich sein, wenn der Engel sich selbst auflöst, Hilfe gefunden und gewährt wird, und wenn zusammenfindet, was zusammen gehört und die Wahrheit ans Licht kommt."
"Tja, aufgelöst hat sich der Engel ja bereits in gewisser Weise", stellte der Mann trocken fest. "Das mit der Hilfe ist auch bereits im vollen Gange, wenn ich Sie alle mir so ansehe", fuhr er augenzwinkernd fort und wandte sich mit ernster Miene an Molla. "Meine Gnädigste, fehlt nur noch die Wahrheit, die ans Licht kommen muss, damit zusammenfindet, was zusammen gehört. Denken Sie nicht, es ist an der Zeit, Ihren Freunden zu erzählen, warum Sie hier in Gottesgabe so berühmt sind?"
Mollas Blick richtete sich zum Fenster und wanderte in die Ferne. Amelie glaubte, dass sie ihr Geheimnis für immer für sich behalten wollte, doch dann zitterten ihre Lippen und sie begann zu sprechen. "Ich habe euch nicht die ganze Geschichte erzählt", setzte sie stockend an. "Es stimmt, ich habe Samuel geliebt und als die Mauer errichtet wurde, haben wir uns schweren Herzens voneinander getrennt. Ich hatte versucht, ihn zu besuchen ..."
"Aber du bist an der Grenze zur DDR umgekehrt", ergänzte Anton.
"Ja", antwortete Molla. "In den folgenden Jahren konnte ich es nicht mehr ertragen, die Grenze zu passieren. Aber beim ersten Mal habe ich es getan. Ich musste ihn einfach sehen. Die Sehnsucht war zu groß, und es gab etwas, das ich ihm nicht in einem Brief mitteilen konnte. Es war nämlich so: Unser letzter gemeinsamer Abend war nicht ohne Folgen geblieben."


14. Dezember - erzählt von Angelika Lauriel

Das alles war äußerst kurios. Molla hatte während der langen Fahrt in Gedanken im Fond neben Amelie gesessen, und ihre steigende Aufregung war ihr kaum anzumerken gewesen. Aber ich kannte sie zu gut, um es nicht zu bemerken. Agathe, die vom Beifahrersitz aus mit den Kindern auf der Rückbank redete, schien es nicht mitbekommen zu haben. Sie wunderte sich auch nicht weiter, als Molla immer ruhiger wurde. Ich überließ meine alte Freundin den Geistern, die in ihrem Kopf aufgewacht sein mochten und ihr Gesicht manchmal in ein freudiges Lächeln, manchmal in einen fast sorgenvollen Ausdruck legten. Ob sie darauf hoffte, Samuel wiederzusehen? Ob sie sich sorgte, zu spät zu kommen?
Ich fragte mich, wie sie es verkraftet hatte, einen Menschen aufzugeben, den sie so sehr geliebt hatte. Wie konnte man damit leben, nach wenigen glücklichen Jahren die Liebe seines Lebens freizugeben in dem Wissen, dass er jemand anderen an seine Seite nahm? Meine Achtung vor der uralten Molla wuchs. Ich hatte gewusst, dass sie eine starke Persönlichkeit war, aber diese tragische Liebesgeschichte hatte ich nicht hinter ihr vermutet.
Agathe erzählte Nils indessen Geschichten über ihre letzten Urlaube, und nach und nach schaffte sie es, auch mich mit ihrer herzlichen und fröhlichen Art in den Bann zu ziehen. Ab und zu begegnete ich ihrem Blick und stellte fest, dass sie lachende Augen hatte. Eine zauberhafte Person!

Ich merkte Molla an, wie verkrampft sie sich hielt, als wir das Elternhaus von Samuel besichtigten, und ich sah sehr deutlich, wie sie ihre Schultern erleichtert herunter sacken ließ, als der junge Mann vom Nachbarhaus ihr erzählte, dass der alte Samuel keineswegs auf dem Friedhof lag, sondern noch lebte. Der Bursche hatte ein paar Jahre mehr als Molla auf dem Buckel - nach allem, was sie erzählt hatte, musste er in den späten Zwanzigerjahren geboren sein. Er ging also stramm auf die Neunzig zu. Und nun lebte er bereits seit fünf Jahren in diesem Altersheim? Das war ja schon irgendwie traurig.
"SIE sind die berühmte Molla?", hörte ich den Nachbarsenkel gerade sagen, und wandte ihm meine Aufmerksamkeit zu.
Molla legte den Kopf schief und blinzelte unter ihrer Mütze zu ihm hoch. "Ja-a ... ähm, wieso denn berühmt?"
"Also, wissen Sie, hier in Gottesgabe hat jeder von Ihnen gehört. Und manche haben Sie auch mal getroffen, damals, bevor ich geboren war, in der Zeit des Mauerbaus ..." Er runzelte die Stirn. "Wieso sind Sie eigentlich danach niemals mehr hergekommen?"
Molla sackte fast unmerklich zusammen. Fröstelnd zog sie den Mantel fester zu. "Ach, das ist eine komplizierte Geschichte."
"Wir lieben komplizierte Geschichten", rief Amelie aus. Ihre Augen leuchteten, als sie von ihrer Oma zu Molla und dann zu dem jungen Mann sah. Nils hatte Amelies Hand ergriffen und nickte heftig.
"Also, wisst ihr, ich liebe sie auch." Der Nachbar warf einen Blick auf seine Armbanduhr. "Jetzt brauchen Sie eh nicht nach Klein Welzin zu fahren. Mittagsruhe!" Er tippte nachdrücklich mit dem Zeigefinger auf die Uhr. "Vor sechzehn Uhr lassen die niemanden herein."
"Ach was, ihr kennt doch die Geschichte schon", versuchte Molla abzuwehren.
"Darf ich euch auf einen Kaffee ins Haus meiner Großeltern einladen? Es ist zwar nun schon eine Weile unbewohnt, aber die Küche funktioniert noch. Und ich mache mir jedes Mal einen Kaffee, wenn ich da bin, um nach dem Rechten zu sehen."
Nils und Amelie ergriffen je eine von Mollas Händen und begannen, auf und ab zu springen. "Au ja, wir wollen hören, warum du so berühmt bist, Molla", riefen sie aus.

"Kinder, nun mal langsam!" Agathes Ton klang merkwürdig, und alarmiert folgte ich ihrem Blick. Sie hatte die Hand auf Nils' Schulter gelegt und griff nach Amelies Arm. Molla wirkte mit einem Mal wacklig, ihr Gesicht war aschfahl. Schnell machte ich einen Schritt auf sie zu und konnte sie gerade noch auffangen. Leicht wie ein Kind fühlte sie sich in meinen Armen an.
Ihre Lider flackerten, als sie mich ansah. "Das ist alles ein bisschen zu viel für mich, fürchte ich."


13. Dezember - erzählt von Heike Schulz

Sie kletterten zurück in das warme, große Auto, und Anton startete den Motor. Wenn Amelie eben noch schläfrig und steif gewesen war, so war nun Oma Agathes und vor allem Mollas Aufregung auf sie übergegangen. Amelie reckte die Nase und wischte mit der Handkante das Seitenfenster frei, um einen Blick nach draußen zu erhaschen. Die winterstarre Landschaft glitt gemächlich vorbei, und allmählich tauchten die Höfe und Häuser von Gottesgabe auf. Amelie wurde es schwer ums Herz als sie sah, wie viele der Behausungen verlassen waren und bereits deutliche Spuren des Verfalls zeigten. Fenster waren vernagelt, Dächer eingefallen und in den Vorgärten beugten sich hüfthohe Brombeerbüsche unter der Schneelast.
"Ein Jammer. Was für ein Jammer", seufzte Molla neben ihr.
Amelie griff nach ihrer Hand und drückte sie sanft.
"Warum ist hier alles kaputt?", fragte Nils, dem der Zustand des Dorfes nicht entgangen war.
"Merkwürdig", antwortete Anton. "Es liegt doch sehr nah an Schwerin, und dort ist alles saniert und modern und blitzblank. Eigentlich müsste das Dorf doch von seiner guten Lage und vom Tourismus profitieren. Ich verstehe das nicht."
"Ein Jammer", wiederholte Molla traurig und bedeutete Anton, vor einem kleinen Bauernhäuschen anzuhalten. "Hier ist es."
Sie stiegen aus und stapften zu der kleinen Gartenpforte, die windschief in den Angeln hing. Der Schnee zwischen Gartentörchen und Haustür war unberührt, und obwohl das Haus noch in einem guten Zustand schien, sah man auf dem ersten Blick, dass es unbewohnt war.
"Bist du sicher, dass es hier ist, Molla?", fragte Oma Agathe und fasste Molla am Ellbogen.
Molla nickte und deutete auf das kleine Fenster neben der Tür. "Dort ist die Küche. Samuels Mutter schaute fast den ganzen Tag durchs Fenster, als erwartete sie einen Besucher. Und hier stand ein Apfelbaum." Sie zeigte auf einen schneebedeckten Stumpf, breit wie ein Kanaldeckel. "Gelber Richard hatte sie die Sorte genannt, und er schmeckte wunderbar."
Sie versuchte, die Gartenpforte aufzudrücken, doch Anton kam ihr zuvor.
"Lass mal, ich mach das."
Er musste sich ziemlich dagegen stemmen. Die Unterkante schob den Schnee zu einem Wall zusammen und zeichnete einen Viertelkreis auf den Gartenweg, bei dessen Anblick Amelie an den Schneeengel denken musste, den Nils neulich im Vorgarten der Nachbarn mit seinem Körper gemalt hatte.
Molla ergriff Antons Arm und ging ihnen voran auf die Haustür zu. Nils hielt Oma Agathe, ebenfalls ganz Gentleman, den Arm hin, den sie mit einem huldvollen Nicken ergriff. Amelie bildete das Schlusslicht.
Wortlos führte Molla sie auf die Rückseite des Häuschens, lugte hier und da durch die Ritzen der heruntergelassenen Jalousien, probierte vergeblich die Türklinke des Gartenschuppens hinter dem Haus, strich gedankenverloren den Schnee von der Zipfelmütze eines Gartenzwergs und seufzte.
"Mir scheint, wir sind zu spät", murmelte sie tonlos. "Hier wohnt niemand mehr. Lasst uns nach Hause fahren."
Amelie biss sich auf die Unterlippe. Eine Sackgasse. Wie sehr hatte sie sich darauf gefreut, Mollas verschollene Liebe kennenzulernen, mehr über den zerbrochenen Weihnachtsengel zu erfahren, und was es mit dem Zettel und der geheimnisvollen Botschaft im Kleidersaum auf sich hatte. Nun würden sie nie herausfinden, wie die Porzellanfigur zu reparieren war, und sie musste ihren Eltern gestehen, dass das alte Familienerbstück nur wegen ihr unwiederbringlich verloren war. Ganz zu schweigen von Mollas Enttäuschung darüber, dass sie ihre große Liebe niemals wiedersehen würde. Das würde das traurigste Weihnachtsfest werden, das sie je erlebt hatte.
Sie umrundeten das Haus und kehrten zur Gartenpforte zurück. Anton zog sie wieder ins Schloss, und nachdem Molla einen letzten Blick auf das verlassene Anwesen geworfen hatte, drehten sie sich um, um zum Auto zurückzukehren. Sie hatten es fast erreicht, da höte Amelie jemanden rufen.
"He, Sie da! Kann ich Ihnen helfen?" Amelie sah auf und entdeckte einen Mann, der ihnen durch den geöffneten Türspalt vom Haus gegenüber entgegen trat. Er war vielleicht so alt wie Amelies Vater, und die Art, wie er sie ansah, hatte etwas Misstrauisches.
"Ja, bitte", antwortete Molla, und ging auf den Fremden zu. "Der Mann, der hier gewohnt hat ..."
"Der alte Samuel, ja." Der Fremde guckte nun nicht mehr misstrauisch, sondern kam neugierig auf Molla zu.
"Ja, Samuel. So hat er geheißen." Molla wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. "Sie kannten ihn?"
Der Fremde lachte. "Aber ja. Das Haus hier gehörte meinen Großeltern. Meine Großmutter ist vor fünf Jahren verstorben, und ich sehe ab und zu nach dem Haus, damit es nicht verfällt. Wer weiß, vielleicht findet sich ja doch noch ein Käufer. Sie hat sich trotz ihres hohen Alters um Samuel gekümmert, für ihn gekocht und so. Als ich klein war, hat er mir mal eine Seifenkiste gebaut, die sah aus wie ein echter Silberpfeil. Er hat immer etwas gemalt oder gebastelt für uns Kinder."
"Ja, geschickt war er, der Samuel. Und so talentiert." Molla nickte. "Vielen Dank, junger Mann. Wir müssen dann los." Sie hielt dem Fremden zum Abschied die Hand hin, doch er stutzte.
"Wenn Sie doch gerade in der Gegend sind, warum besuchen Sie ihn nicht einfach?"
Molla sah ihn wehmütig an. "Ja, warum nicht? Wie kommen wir denn zum Friedhof?"
Der Fremde zog die Brauen hoch. "Wieso Friedhof? Samuel wohnt seit dem Tod meiner Großmutter im Alten- und Pflegeheim in Gut Klein Welzin. Seine Enkel gehen ihn zwar regelmäßig besuchen, aber über den Besuch einer alten Freundin wird er sich sicher freuen. Sie sind doch eine alte Freundin, nicht wahr?"
Molla blühte bei dieser Nachricht förmlich auf. "Sie meinen, Samuel lebt noch?" Ihre Wangen nahmen einen rosigen Glanz an, und ihre Augen leuchteten. "Ja, ich bin eine alte Freundin aus der Jugendzeit. Mein Name ist Molla."
Dem Fremden klappte der Mund auf. "Das gibt es doch nicht! SIE sind die berühmte Molla?"


12. Dezember - erzählt von Angelika Lauriel

Samuel lag in seinem Bett fühlte sich ... anders. Irgendetwas war anders als sonst. Seit gut fünf Jahren lebte er jetzt im Alten- und Pflegeheim, das in Gut Klein Welzin eingerichtet worden war. Natürlich wohnten hier nicht nur Bürger von Gottesgabe, die in die Jahre gekommen waren, sondern auch viele von außerhalb. Samuel hatte es lange hinausgeschoben, in das Altenheim zu ziehen, doch nachdem seine alte Nachbarin auch noch verstorben war, gab es niemanden mehr in Gottesgabe, der ihm hätte zur Seite stehen können.
Samuels Erinnerungen kamen ungebeten, doch nicht unerwünscht. In den frühen Morgenstunden dieser Winternacht erlebte er glückliche Momente wieder. Wie lange hatte er sich den Erinnerungen verschlossen gehabt? Er wusste es nicht. Zufrieden und gespannt zog er die warme Decke bis ans Kinn, schloss die Augen und ließ es zu.

Da war seine Mutter in der kleinen Küche des Häuschens, das mittlerweile leer stand und bald verfallen würde, aber es war einfach zu klein und baufällig, um heutzutage damit noch etwas anzufangen. Er hatte sie vor Augen, vom Kummer gebeugt, wie sie sich vor und zurück wiegte. "Samuel, bitte, flieh! Mein Herz wird es nicht ertragen, wenn es dich auch noch verlieren muss. Ich spüre es, dein Vater lebt nicht mehr. Deine Brüder - der Herr hab sie selig - waren noch viel zu jung, um in den Krieg zu ziehen ..." Sie wischte sich die Tränen von den Wangen. "Und bald werden sie die ganz jungen Burschen holen, ich spüre es. Dieser unselige Krieg verläuft nicht so, wie Hitler es sich gedacht hat." Samuel war damals sechzehn gewesen. Er hatte auch schon gehört, dass Jungen von siebzehn Jahren zu Soldaten gemacht wurden. Und obwohl er sich schlecht dabei fühlte, wollte er nicht in den Krieg ziehen. So stimmte er seiner Mutter schweren Herzens zu und machte sich auf die Flucht. Weg von Gottesgabe, weg von Schwerin, zuerst mal Richtung Berlin.

Er sah sich, wie er in jenem Winter von Bahngleisen hinuntersprang und sich zwischen die kahlen Stämme der Bäume am Bahnkörper duckte. Er hatte Glück. Niemand blickte aus dem Zug, keiner bemerkte ihn. Während er auf der eiskalten Erde im Dunkeln lag, ertastete er mit der Hand etwas Eckiges und Trockenes. Einen Karton, den hier jemand verloren haben musste. Er lag noch nicht lange da, die Pappe war trocken und fest. Wann war jemand vor ihm dieser Route gefolgt, und wer? Auch ein Flüchtling wie er? Möglicherweise ein Jude ... Man hatte so eigenartige Geschichten gehört. Die Tatsache, dass er selbst zu einem Viertel jüdisches Blut in sich trug, hatte ihm in den vergangenen Jahren oft ein Gefühl der Übelkeit beschert. Vielleicht waren seine beiden Brüder deshalb so unglaublich früh in die Wehrmacht aufgenommen worden und hatten für diesen Führer gekämpft, der Juden doch hasste.

Heutzutage wusste man das. Samuel zog sich die Decke über die Nasenspitze, ihm war kalt geworden. Trotzdem wollte er den Fluss der Erinnerungen nicht unterbrechen. Vielleicht gab es noch eine Aufgabe, die er zu erfüllen hatte. Und dann durfte er vielleicht gehen. Er war alt. Viel zu alt.


Er sah Agathe, das rotwangige, lebensfrohe Mädchen, das ihm oft Gesellschaft leistete, wenn er bei ihrer Familie im Keller saß und malte. Einen ganzen Winter lang und dann noch bis in den Mai, bis der Horror endlich ein Ende hatte. Er und sie hatten oft den Engel aus seinem Karton genommen und ihn bewundert. Es hatte noch eine Weile gedauert, bis sich alles beruhigt hatte und er endlich wieder nach Hause ziehen konnte.

Und dann war da Molla. Wunderbare, bezaubernde, blaustrümpfige Molla. Wie sehr hatten sie sich geliebt! Wie sehr hatte er ihre Unabhängigkeit bewundert, ihren klugen Verstand, ihre Herzenswärme. Wie sie es verstanden hatte, dass er zurück musste und von ihm abverlangte, ihre Entscheidung ebenfalls zu aktzeptieren. Sie hatte ihre Familie nicht verlassen können. Die kranke Mutter, den verstört aus dem Krieg heimgekehrten Vater. Schicksale, wie sie so viele Menschen damals teilten. Er sah sie vor sich, um die dreißig Jahre alt, unter der Buche beim Schweriner Schloss, die Augen voller Liebe. Sie hatte gespürt, dass die Zeiten sich abermals wandeln würden. Von einer Mauer hatte sie gesprochen. Er hatte ihr nicht geglaubt. Hatte ihr einfach nicht geglaubt, sondern den Worten des Staats- und Parteichefs Ulbricht vertraut. Hätte er es nicht besser wissen müssen? Noch heute hörte er dessen eigenartig raue Stimme versichern, dass niemand die Absicht hätte, eine Mauer zu errichten.
Danach hatte er sie nie wieder gesehen. Sie hatten sich geschrieben, er erzählte ihr von Susanne, von ihren gemeinsamen Kindern Josh und Lisa. Sie hatte sich für ihn gefreut. Auch die drei sah er an diesem Morgen, in seinem Bett in Klein Welzin, und nichts als Freude dehnte sein Herz. Susanne hatte ihn verlassen. Seine junge Frau war lange vor ihm gegangen. Josh und Lisa besuchten ihn mit den Enkeln regelmäßig. Lisa hatte ihm so oft angeboten, ihn zu sich und ihrer Familie zu nehmen. Doch er war es müde. Er wollte sich nicht mehr verpflanzen lassen.
Ein Gedanke zuckte durch seinen Kopf bis in sein Herz hinein: Warum hatte er Molla niemals gebeten, ihn zu besuchen? Nach dem Fall der Mauer. Susanne hätte sie willkommen geheißen. Sie kannte die alte Geschichte. Wann hatte Molla aufgehört, ihm zu schreiben? Wann war der Alltag zu voll geworden, um diese wertvolle Verbindung aufrecht zu erhalten?
Warum dachte er heute daran?
Warum sah er den Engel vor sich?
Was war geschehen, oder was würde geschehen?


11. Dezember - erzählt von Heike Schulz

"Mutter, bis du denn von allen guten Geistern verlassen?" Amelies Papa umklammerte das Telefon so fest, als wolle er Saft daraus pressen. "Die Kinder mit dir und zwei wildfremden alten Leuten einfach mal so nach Schwerin fahren lassen? Bei dem Wetter?" Er raufte sich die Haare. "Womöglich noch in deinem Mini?"
Amelie hörte Omas besonnene Stimme am anderen Ende der Leitung. Flehentlich schaute sie zu Papa auf, der an der Unterlippe nagte und immer mehr wie Nils guckte, wenn Mama ihn schimpfte.
"Aha ...", murmelte er. "Okay ... Aber wenn ..."
"Junge, nun mach dich mal locker!", hörte Amelie ihre Oma rufen und grinste. "Was ist denn schon dabei? Oder denkst du, ich sei eine tüddelige, alte Schachtel, der man die eigenen Enkel nicht zu einem klitzekleinen Ausflug anvertrauen kann?"
"Nein, Mama", antwortete Papa kleinlaut und setzte zu einem Einwand an, den Oma sofort mit einem Redeschwall im Keim erstickte. Es folgten noch ein paar "Ahas", "Sosos", und ein oder zwei missmutige Schnaufer, dann verabschiedete er sich und legte das Telefon auf die Ladestation.
Amelie und Nils hielten die Luft an, während Papa mit gerunzelter Stirn auf sie beide herab schaute, und atmeten erleichtert aus, als er endlich nickte.
"Also los, packt eure Sachen, ihr fahrt morgen früh mit Oma und den beiden alten Herrschaften nach Schwerin."
"Das heißt Goldachter", verkündete Nils, worauf Amelie ihm den Ellbogen in die Seite stieß.
"Gottesgabe, du Dämel", verbesserte sie, worauf er die Schnute zu einem Flunsch zog.
"Mama, Amelie hat Dämel zu mir gesagt", rief er und rannte zu Mama, die der Szene von der Küchentür aus zugesehen hatte.
"Steffen, hältst du das für klug?", fragte sie Papa und zerzauste Nils Haarschopf. "Was will sie denn in diesem Gottesgabe? Sie ist doch gerade erst aus dem Urlaub zurück."
Papa hob die Schultern. "Frag mich nicht, was im Kopf meiner Mutter vor sich geht. Ich weiß nur eins, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann zieht sie es auch durch."
Im Handumdrehen hatte Amelie ihre Sachen in die Sporttasche gestopft, verstaute den Karton mit den Engelsscherben zwischen ihrer warmen Thermohose und dem Strickpulli von Tante Moni, und half Nils dabei, seinen Rucksack mit allem Notwendigen zu packen. Am Ende guckte sein Plüschhund oben aus dem Reißverschluss, ohne den Nils noch nie außer Haus übernachtet hatte.
Die halbe Nacht wälzte sie sich unruhig im Bett herum und war erleichtert, als am nächsten Morgen endlich der Wecker klingelte. Pünktlich um sieben läutete es an der Tür, und Oma Agathe, Anton und Molla holten sie in einem riesigen, blank polierten und offenbar uralten Mercedes ab.
"Donnerwetter, das ist ja mal eine Antiquität", murmelte Papa beim Anblick des Autos.
"Das ist ein W 108, Jahrgang 1968", verkündete Anton stolz und streichelte den grauen Lack. "Und tadellos in Schuss."
"Der ist ja älter als ich", staunte Amelies Papa und trat näher. Die Rückbank war fast so groß wie das Sofa im Wohnzimmer.
"Wenn Sie möchten, lasse ich Sie mal fahren, sobald wir zurück sind", bot Anton an, worauf Papas Augen leuchteten.
Nachdem die Taschen im Kofferraum verstaut waren und sich alle ausgiebig voneinander verabschiedet hatten, kletterten Amelie und Nils zu Molla in den Fond.
Erstaunlich souverän lenkte Anton das Schiff von einem Auto durch den Stadtverkehr und auf die Autobahn Richtung Osten. Die gemütlichen Sitze und das Brummen des Motors schläferten Amelie nach einer Weile ein, und als sie nach einem Nickerchen aufschreckte, bemerkte sie, dass der Wagen zum Stehen gekommen war.
"Aufwachen, Schlafmütze!", rief Nils. "Wir sind da, und es hat hier ganz, ganz viel geschneit!"
Amelie rieb sich den Schlaf aus den Augen, streckte sich und folgte Nils nach draußen, wo die anderen bereits auf sie warteten.
"Ja, genau hier ist es", stellte Molla fest, wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und deutete auf ein kleines Dorf, das einen Steinwurf entfernt in einer Mulde lag. "Das hier ist Gottesgabe, und es hat sich nichts verändert."
Amelie ließ den Blick über krumme, schneeverkrustete Gassen schweifen, über windschiefe Bauernhäuser, die sich mit ihren weißen Mützen unter einer Backsteinkirche duckten, über Weidezäune, auf denen Krähen wie Totengräber hockten, knorrige Apfelbäume, die sich unter der weißen Last beugten, und brachliegende Äcker, verfallene Scheunen und verwaiste Viehställe.  
"Ist ja nicht gerade der Hit hier", meinte sie skeptisch, doch Molla schüttelte den Kopf.
"Wart's nur ab, Kind. Diesem Ort hier wohnt ein ganz besonderer Zauber inne."


10. Dezember - erzählt von Angelika Lauriel

Plötzlich machte ich mir Sorgen um Agathe, diese lebenslustige Witwe. Der erste Eindruck, den sie auf mich gemacht hatte, war enorm stark gewesen. So stark sogar, dass ich nur schweigend dabeigesessen und Zimtsterne gefuttert hatte. Ihre gesunde Gesichtsfarbe hatte sich aber bei Amelies Bericht nach und nach verabschiedet, ihre Miene war nachdenklich geworden, und es wirkte ein bisschen so, als müsse sie etwas ansehen, was sie nicht sehen wollte. Ihr Blick hatte sich auf eine gestickte Tanne geheftet, die die Tischdecke zierte. Ich dachte darüber nach, wie ich ihre Stimmung wieder aufhellen konnte, und sagte schließlich, was mir in den Sinn kam.
"Diese Zimtsterne sind vorzüglich." Ich tupfte mit dem Finger ein Stückchen Zuckerguss von meiner Lippe. "Können Sie mir das Rezept geben?"
Tatsächlich lachte Agathe auf, und die Sorgenfalten auf ihrer Stirn milderten sich. "Nein, da müssen Sie schon die Leute vom Feinkostladen fragen. Glauben Sie wirklich, ich hätte auf Mallorca Weihnachtsplätzchen gebacken?"
Ich stimmte in ihr Lachen ein. "Sie haben recht, das wäre komisch."
"Kinners, wollt ihr euch allen Ernstes weiterhin siezen?", mischte Molla sich ein. "Agathe, darf ich vorstellen - Anton. Anton, das ist Agathe." Sie fuchtelte mit den Händen zwischen uns hin und her. "Jetzt wollen wir mal nicht so tun, als hätten wir noch nie voneinander gehört, oder?"
Agathe und ich grinsten. Bestimmt hatte Molla ihr damals von mir auch so vorgeschwärmt, wie sie es in meiner Gegenwart von Agathe getan hatte. Und jetzt, wo ich die Dame vor mir sah, musste ich eingestehen, dass Molla richtig gelegen hatte - sie wäre nach meinem Geschmack gewesen.

"Ist ja schon gut, wir finden Oma auch klasse", erklärte Nils keck. "Aber was ist jetzt mit dem Goldachter? Oder wie heißt das Ding?"
"Goldachter?" Amelie lachte hell auf. "Meinst du den Ort, Gottesgabe?"
"Sag ich doch." Zufrieden lehnte er sich zurück und kaute auf einer kandierten Mandel herum.
Agathe räusperte sich. "Also, das ist nämlich so. Ihr wisst ja, dass ich damals den Engel von einem jungen Mann bekommen hatte, der sich bei meinen Eltern versteckt hielt, solange der Krieg dauerte, und ein paar Jahre danach auch noch. Er war Künstler, ich saß oft bei ihm im Keller unten, wenn er Bilder malte. Und er erzählte mir viele Geschichten. Vom ersten Weltkrieg, in dem sein Vater Soldat war, und vom zweiten, aus dem der Vater nicht zurückkehrte. Sogar seine beiden Brüder verlor er an diesen verdammten Krieg. Es war seine Mutter, die ihn bat, wegzugehen, bevor er von der Wehrmacht eingezogen wurde."
Molla nickte zu Agathes Worten. "Samuel hat es nie verwunden, dass kein männliches Mitglied seiner Familie überlebt hatte."
Agathe starrte sie an. "Du ... kanntest Samuel auch?"
Nun geschah etwas, das ich an Molla noch niemals gesehen hatte: Sie errötete. Meine energische ältere Freundin, die mir in der Kindheit und danach so tatkräftig zur Seite gestanden hatte, wand sich vor Verlegenheit!
"Nun ... ja", sie nickte Agathe zu. "Ich kannte ihn. Du warst damals noch ein Backfisch, aber ich war bereits eine junge Frau. Und Samuel war ein so stiller, hübscher und feinsinniger Mensch." Mollas Stimme wurde weich. "Es tat mir weh, ihn gehen zu lassen. Aber seine Mutter brauchte ihn. Ich konnte ihr nicht auch den letzten Sohn wegnehmen." Sie straffte die Schultern. "Und ich wurde hier gebraucht. Wir haben trotzdem unsere Liebe bewahrt, auch wenn ihr Jungvolk euch das nicht vorstellen mögt." Agathe gluckste leise beim Wort "Jungvolk", und Amelie kicherte fröhlich. "Einmal im Jahr bin ich zu ihm gefahren, für ein paar Tage. Wir haben uns geliebt ..." Sie hielt inne und warf Nils einen verstohlenen Blick zu, doch der Knirps fand nichts bei ihren Worten, während Amelie sich mit einem breiten Grinsen auf die Unterlippe biss. "Wir haben das Schweriner Schloss besucht, wie oft sind wir dort durch den Park geschlendert und haben uns unter der jahrhundertealten Buche etwas gewünscht."

"Und nach dem Mauerbau?", fragte Agathe.
Molla wischte sich verstohlen über die Augen. "Da ging es nicht mehr, es war Schluss. Ich habe so oft versucht, hinüber zu reisen, aber an der Grenze zur DDR musste ich umkehren." Sie griff sich an den Hals. "Mir blieb die Luft weg, mein Herz spielte verrückt." Sie schüttelte den Kopf. "Ich weiß nicht, warum, aber ich konnte die Grenze nicht überschreiten. Samuel hat mir noch lange geschrieben. Die alten Geschichten von seiner Familie und den beiden Kriegen wollte er aber nicht mehr aufrühren, und ich habe das akzeptiert."
"Wann habt ihr euch zum letzten Mal gesehen?", fragte ich, tief berührt von Mollas Geschichte.
"Das war davor. Vor dem Mauerbau. Samuel gründete danach eine Familie." Sie lächelte. "Das war gut und richtig so. Ich habe ihm das Glück mit Susanne immer gegönnt. Ich wusste allerdings, dass ich nie eine eigene Familie haben würde. Er war die Liebe meines Lebens."

"Und was ist jetzt nochmal mit dem Goldachter?" Nils sah gespannt von einem zum anderen.
"Gottesgabe meinst du", stöhnte Amelie.
"Wie wäre es", schaltete die gutgelaunte Agathe sich noch einmal ein, "wenn wir einen Abstecher dorthin machen?"
"Oma", maulte Amelie, "da musst du erst mal Mama und Paps überzeugen ... außerdem muss ich zur Schule!"
"Aber doch nicht am Wochenende." Agathe rieb sich unternehmungslustig die Hände. "Mein Auto ist frisch übern TÜV, die Winterreifen sind drauf, Öl, Bremsflüssigkeit und Frostschutz aufgefüllt. Und zu viert passen wir auch in den Mini hinein."
"Und wen lassen wir dann hier?" Molla schüttelte den Kopf. "Nein, wir nehmen Antons Wagen. Du hast ihn doch auch schon winterfest machen lassen, oder?"
Ich nickte und spürte so ein Kribbeln im Bauch, das man niemals vergisst, als ob man zu viel Brausestäbchen isst. "Absolut! Da haben wir fünf bequem Platz." Ich klatschte in die Hände und wunderte mich selbst darüber. "Kinder, ab nach Hause, Kofferpacken. Morgen in aller Frühe geht es los. Auf nach Goldacht... Gottesgabe!"


09. Dezember - erzählt von Heike Schulz

Nils zupfte und zerrte an ihrem Jackenärmel. "Mitkommen! Ich will mitkommen", quengelte er und tänzelte vom einen Fuß auf den anderen.
Amelie stöhnte genervt auf. Sie hatte ihren Eltern versprechen müssen, erst nach den Hausaufgaben zur Puppenwerkstatt und danach mit Molla und Anton zu Oma zu gehen, und war sowieso schon viel zu spät dran. Jetzt hielt sie auch noch der kleine Quälgeist auf.
"Bitte, Ami, nimm mich mit! Ich kann helfen! Und Oma hat bestimmt Kekse." Genießerisch streichelte er seinen Bauch.
Als sie in seine großen blauen Augen blickte, hatte sie verloren. "Na gut", lenkte sie widerstrebend ein. "Aber quatsch nicht dazwischen, wenn wir Großen uns unterhalten, klar?"
Nils grinste. "Du bist doch noch gar nicht groß", kicherte er und steckte die Wintersockenfüße in seine Fellboots.
"Größer als du, Zwerg", antwortete Amelie, wickelte den Schal um ihren Hals und zog den Reißverschluss an Nils' Jacke zu. "Und jetzt komm. Mama, ich nehm' Nils mit. Bis später!", rief sie über die Schulter, nahm ihren Bruder an die Hand und trat hinaus.
Inzwischen hatten sämtliche Nachbarn es aufgegeben, im Stundentakt den Schnee zu räumen, und es hatte sich eine feste Schneedecke auf den Bürgersteigen gebildet. Bei jedem Schritt knirschte es unter Amelies Füßen, und Nils konnte einfach nicht genug bekommen von der weißen Pracht. Das letzte Mal, als es so geschneit hatte, war er noch zu klein gewesen, um sich bewusst daran zu erinnern. Vergnügt hopste er vor ihr her und freute sich über jede einzelne Flocke, als wäre sie ein Zauberkristall.
"Guck mal, Ami! Ich bin ein Engel!" Rücklings ließ er sich auf die jungfräuliche Schneedecke im Vorgarten der Neumanns fallen und breitete Arme und Beine aus.
"Komm, wir müssen uns beeilen", rief Amelie und zog ihn hoch. Als sie ihm den Schnee vom Hosenboden klopfte, fiel ihr Blick auf Nils' Werk. Für einen Augenblick brach die Sonne durch das Schneetreiben und verwandelte den Schneeengel in eine funkelnde Erscheinung aus Tausenden von Farben. Einen Herzschlag lang sah es so aus, als wäre der Engel lebendig, dann schob sich wieder eine Wolke vor die Sonne, und der Effekt war vorbei.
Amelie dachte noch immer über das Gesehene nach, als sie und Nils begleitet vom Bimmeln der Türglocke in den Laden traten.
"Wunderbar, da bist du ja", lachte Molla. "Und den kleinen Künstler hast du auch gleich mitgebracht. Sehr gut."
"Dann können wir also los?" Anton streifte seine Handschuhe über und hielt Molla galant den Arm hin.
"Gerne. Tschüss Kurt, wir berichten dir dann, wenn wir zurück sind." Sie verabschiedeten sich vom Ladenbesitzer, Molla zupfte ihre Mütze zurecht und gemeinsam machten sich die vier auf den Weg zu Oma Agathe.
Während des kurzen Fußweges ballte sich ein immer dicker und dicker werdender Knoten in Amelies Eingeweiden zusammen. Spätestens jetzt musste sie Farbe bekennen und das Missgeschick mit dem Engel gestehen. Oma Agathe würde sich nicht so einfach mit der Geschichte eines Kunstsammlers abspeisen lassen, der mehr über die Herkunft des Engels erfahren möchte. Dafür war ihre Oma viel zu gewitzt. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch drückte sie den Klingelknopf und wartete mit pochendem Herzen, dass ihre Oma öffnete.
"Amelie, Nils! Das ist ja schön, dass ihr mich besucht!", rief sie, und ein Strahlen breitete sich auf ihrem braun gebrannten Gesicht aus. Dann stutzte sie. "Wen habt ihr mir denn da mitgebracht? Das ist doch nicht etwa ... sind Sie, bist du ... Molla?"
"Hallo Agathe! Schön, dich mal wiederzusehen."
Nachdem ihre Oma die erste Schrecksekunde verdaut hatte, stürzte sie sich jauchzend in Mollas Arme. "Molla! Meine Güte, wie lang ist es her? Vierzig Jahre doch mindestens, oder?"
Molla schob Oma Agathe auf Armeslänge von sich. "Ach, was sind in unserem Alter schon ein paar Jahre mehr oder weniger?", lachte sie. "Du hast dich gar nicht verändert!"
"Ach, du Schmeichlerin", winkte Oma Agathe ab, dann fiel ihr Blick auf Anton. "Und wer ist denn der junge Mann hier? Kennen wir uns? Aber kommt doch erst mal rein!"
Rasch räumte sie ein paar Wäschestapel von den Sesseln, entschuldigte sich für die Unordnung, sie sei gerade erst von Mallorca zurück und noch nicht zum Auspacken gekommen, wuselte in der Küche herum und schnaufte durch, als sie endlich mit Tee und Plätzchen bei den anderen im Wohnzimmer Platz nahm.
"Mensch, Molla", murmelte sie immer wieder und konnte den Blick nicht von der alten Freundin losreißen. "Aber welchem Umstand verdanke ich nun euren Besuch?"
Amelie biss von ihrem Vanillekipferl ab, kaute bedächtig und nahm sich ein Herz. "Es geht um den Weihnachtsengel, den wir von dir geerbt haben."
"Ja, mein Schatz, was ist damit?"
"Der ist Schrott", kam Nils sofort mit vollem Mund auf den Punkt.

Nach dem ersten Schock nahm Oma Agathe den Verlust des Engels erstaunlich gefasst auf und folgte sehr aufmerksam Amelies Geschichte. Sie fasste die Katastrophe mit sachlichen Worten zusammen, erzählte von ihrer Begegnung mit Molla, Anton und Kurt und trug zusammen, was sie bisher über den Engel wussten.
"Ich habe mal gegoogelt wegen des Wasserzeichens", erklärte sie und zog einen Zettel aus der Tasche. "Es ist wirklich sehr selten und wurde nur wenige Jahre benutzt, und zwar von Neunzehnhundertdreißig bis Neunzehnhundertneununddreißig. Die Papiermühle wurde mit Beginn des Krieges geschlossen und stand in", Amelie warf einen Blick auf ihren Zettel, "ja, genau, in Gottesgabe. Das liegt bei ..."
"... Schwerin", antwortete Oma Agathe, die plötzlich gar nicht mehr so braun gebrannt aussah.


08.12.2015 - erzählt von Angelika Lauriel

Als Molla und ich in den Schnee hinaustraten, war es längst dunkel geworden. Die Flocken lagen bisher nur hauchdünn wie ein Hochzeitsschleier auf dem Gehweg, aber ich bemerkte, dass Molla sich auf dem veränderten Belag unsicher fühlte, und griff nach ihrem Ellbogen. Sie schielte zu mir hoch und pustete die eine graue Locke zur Seite, die unter dem Rand ihrer Mütze auf ihre Stirn hing. In ihrem Lächeln sah ich das große Mädchen von damals wieder, das mir die Angst vor dem Krieg in den dunklen Stunden erträglich gemacht hatte. Ich drückte ihren Ellbogen und grinste zurück.
"Amelie hat mir einen Zettel mitgegeben. Ich habe noch nicht gesehen, was darauf ist, aber sie sagte, ihr Bruder hätte was entdeckt. Wahrscheinlich geht es um den Engel ..." Ich wartete gespannt, ob sie meine unausgesprochene Bitte wohl heraushören würde.
"Ach, tatsächlich? Dann würde ich sagen, du bringst mich jetzt nach Hause und kommst noch auf eine Tasse Kaffee mit herein." Wir lachten beide bei der Anspielung. Molla und mich verband diese jahrzehntealte Freundschaft, und ab und zu foppten wir uns.
"Okay, gehen wir zu dir", sagte ich also feixend, "das ist auch besser. Ich habe mein Bett nämlich nicht gemacht."
Ihr lautes Lachen hörte sich an wie ein kaputter Abfluss, vor allem, weil sie den Schnorchler am Ende nicht unterdrückte.

Zehn Minuten später saß Molla in ihrer guten Stube, ich kochte uns in der winzigen Küche einen Tee, da ich mich bei ihr genauso gut auskannte, wie sie sich bei mir, und erst als ich mich ihr gegenüber auf dem Sessel niederließ und wir beide eine dampfende Tasse vor uns stehen hatten, hob ich das Blatt Papier auf, das ich zuvor aus der Manteltasche genommen und auf dem Couchtisch abgelegt hatte. Ich konnte Mollas Gesichtsausdruck allerdings ansehen, dass sie bereits nachgeschaut hatte. Sie spitzte den Mund.
Ich faltete das Blatt auf und sah eine Kinderzeichnung. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte ich darin eine Gestalt mit Armen und Beinen - und zwei ausladenden Flügeln. Mir wurde klar, dass der kleine Nils ein Bild des Porzellanengels gemalt hatte. Molla beobachtete mich gespannt. Ich musterte die Zeichnung eingehend, aber mir wollte nichts auffallen, was ich als "Entdeckung" bezeichnen würde.
"Du siehst auch nichts, oder?", fragte Molla.
Ich wusste genau, dass in dem Bild irgendein Hinweis versteckt sein musste, und wie wenn man ein Wort auf der Zunge liegen hat, war ich dicht davor ... aber ich sah es nicht. Ich erkannte einfach nicht, was Amelie gemeint hatte. Enttäuscht schüttelte ich den Kopf. "Nein, ich sehe es nicht. Wir fragen sie morgen, was sie gemeint hat."

Molla nickte langsam und griff neben sich auf die Couch. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie dort ein altes, abgewetztes Notizbuch neben sich liegen hatte. "Es gibt ja noch mehr Geheimnisse zu lösen. Ich habe doch heute Abend auch eine Neuigkeit erfahren ..."
"Stimmt", rief ich aus. "Ich will dich die ganze Zeit schon fragen, was es mit Agathe Anselm auf sich hat. Den Namen kenne ich irgendwoher ... bloß woher ...?"
"Tja, mein Guter, das ist nämlich das Seltsame. Ich kriege das alles nicht zusammen." Damit schlug sie das Buch auf und blätterte darin herum. Ich konnte Seiten erkennen, die in einer energischen Schrift dicht beschrieben waren. Manchmal sah ich eine kleine Zeichnung von einem Kleidungsstück - es konnte auch ein Puppengewand sein -, einem Baum, einer Blume. Molla blätterte zielstrebig in dem Büchlein, bis sie bei einer Seite innehielt. Dort war ein Gesicht gezeichnet. Sie drehte das Buch um, sodass ich lesen konnte, was darunter stand. Es war das Gesicht eines jungen Mädchens, das die Haare in einer altmodischen, toupierten Frisur der 50er Jahre trug. Etwas an dem Zug um die Augen erinnerte mich sofort an Amelie, und schon bevor ich den Namen darunter las, wusste ich, dass das wohl ihre Oma Agathe Anselm sein musste.
"Das ist sie?", fragte ich.
Molla nickte. "Das ist sie. Sie hat bei mir Nähen gelernt. Ich arbeitete damals schon in Kurts Geschäft, aber ich hatte ja auch Damenschneiderin gelernt. Agathe war ein junges Mädchen von siebzehn. Wie du weißt, bin ich ziemlich genau zehn Jahre älter als sie. Und als du." Sie lachte kurz auf. "Anscheinend habe ich eure Jahrgänge am liebsten gehabt. Oder ich habe euch angezogen wie das Licht die Motten." Sie legte nachdenklich den Kopf schief. "Es ist komisch, dass ihr euch nie begegnet seid, wenn man es recht bedenkt."
"Das stimmt allerdings, aber jetzt weiß ich es wieder. Du hast mir damals von ihr vorgeschwärmt, aber ich war ja längst in meine Doris verliebt, die ich jung gefreit habe. Und wir haben es nie bereut." Ich seufzte einmal tief auf, wie jedes Mal, wenn ich an meine verstorbene Frau dachte.
"Ja, das weiß ich. Agathe war ein wunderbares Mädchen, intelligent, hilfsbereit und sehr hübsch noch dazu. Tja, und nun hat sie eine Enkelin, die anscheinend ganz nach ihr schlägt." Molla kicherte. "Ich war immer anders, das weißt du sehr wohl." Sie zog die Wollhose ein Stück hoch und zeigte ihre Socken, die in den warmen Lammfellpuschen steckten, die sie im Winter in ihrem Haus trug. Die Socken waren blau, wie ihr ganzes Leben lang.
Ich nickte und lächelte breit. Das war Molla, wie sie leibte und lebte. "Aber herzlich und hilfsbereit warst du immer, auch ohne Männer an deiner Seite."
"Aber um es kurz zu machen. Diese Geschichte des Engels, der sich in Porzellan verwandelte und in dem eine Prophezeiung verborgen war, die hatte wohl was mit Agathe zu tun. Ich erzählte sie ihr damals nämlich auch."
"Kannst du dich an die Prophezeiung noch erinnern?", fragte ich atemlos.
"Nicht mehr genau. Du musst bedenken, dass ich Jahrzehnte nicht mehr daran gedacht habe. Aber ich weiß wieder, wie stark Agathe damals reagierte, als ich ihr davon erzählte. Mir war damals natürlich nicht klar, dass sie so eine Figur besaß und wahrscheinlich sofort wusste, was für ein Engel das war ... Jedenfalls hieß die Prophezeiung, dass erst, wenn der Engel sich selbst auflöst, Hilfe gefunden und gewährt wird, wenn zusammenfindet, was zusammen gehört, und wenn die Wahrheit ans Licht kommt, ja, dass erst dann Erlösung möglich ist."
Meine Wangen wurden heiß. Ich griff wieder nach Nils' Zeichnung. "Hier!" Ich hielt Molla das Bild unter die Nase und zeigte auf den Saum des Engelsgewandes. "Jetzt weiß ich, was wir nicht gesehen haben. Hier steht ganz deutlich das Wort "Erlösung"! Kannst du es sehen?"
Molla klatschte in die Hände. "Ja, ich sehe es." Dann lehnte sie sich zurück. "Ganz erstaunlich! Das muss auf dem Original in altdeutscher Schrift gestanden haben. Wie hat der Junge das bloß erkannt?" Sie wog anerkennend den Kopf. "Nun müssen wir also ein paar Dinge auf einmal herausfinden. Erstens: Was genau verrät uns das Wasserzeichen in dem Papier? Zweitens: Was weiß Agathe, und kann sie uns weiterhelfen? Drittens: Welche Art der Erlösung ist gemeint?" Gespannt sah sie mich an.
"Gut zusammengefasst. Ich denke, die Sache mit dem Wasserzeichen wird Amelie morgen für uns herausfinden. Dazu sind wir bei ihr ja gar nicht mehr gekommen. Wenn nicht, schaffen wir das vielleicht auch noch gemeinsam. Agathe kannst du morgen anrufen, und wenn sie es erlaubt, werde ich mit dir zu ihr gehen. Und die Erlösung ..." Ratlos zog ich die Schultern hoch. "Das ist so ein großes Wort." Ich kratzte mich am Kinn. "Ich glaube, das stellen wir einfach mal noch zurück."
Molla erhob sich mühsam von ihrer Couch. "Genau so machen wir das. Und jetzt, mein Lieber, schicke ich dich heim. Ich bin ein anständiges Mädchen und muss schlafen gehen." Ihr Lachen war wieder übermäßig laut und endete - wie sollte es anders sein? - mit einem Grunzen.


07.12.2015 - erzählt von Heike Schulz

Sie hatten alles gut durchdacht, aber je näher der Uhrzeiger auf halb sechs rückte, umso nervöser wurde Amelie. Was, wenn Papa auf die Idee kam, den beiden den Engel zu zeigen? Auf gar keinen Fall durfte er von der Katastrophe erfahren, die in diesem unbedachten Moment ihren Lauf genommen hatte. Nils war seit dem Missgeschick auffällig still geworden, und Amelie befürchtete, dass er das schlechte Gewissen nicht mehr lange aushalten und reinen Tisch machen könnte.
"Es war nicht deine Schuld", beschwor sie ihn nun zum x-ten Mal, als er wieder einmal in seinem Zimmer saß und schweigend vor sich hin brütete. "Du wolltest nur helfen. Ich hatte die Verantwortung für den Weihnachtsschmuck, ich hätte dich nie in der Kiste kramen lassen dürfen. Wenn, dann war es alleine meine Schuld."
Nils wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. Hatte er etwa geweint?
"U... und wenn wir den Engel nicht mehr heile machen können?", schniefte er. "Kommt dann das Christkind dieses Jahr nicht zu uns?" Mit großen Augen sah er Amelie an.
Der Kleine konnte eine echte Nervensäge sein, aber ihn so verzweifelt zu sehen, ließ ein warmes Gefühl der Zuneigung in Amelie aufsteigen. Tröstend streichelte sie ihm über den Kopf und lächelte ihn zuversichtlich an. "Aber klar doch. Mach dir da mal keine Sorgen." Sie drückte ihm einen Kuss auf die feuchten Wangen und freute sich, als sich seine Miene entspannte. Wenn man ihre Welt doch genauso schnell wieder in Ordnung bringen könnte.
"Für alle Fälle habe ich ein Bild vom Engel gemalt", erklärte Nils, stand auf und zog eine Zeichnung von seinem Schreibtisch, auf dem zwischen Malblättern und Spielzeugautos etliche Wachsmalstifte herumlagen. "Wir können das ja als Ersatz an die Baumspitze hängen."
Amelie sah sich beiläufig die Kritzelei an und nickte. "Das ist eine gute Idee", antwortete sie, und stutzte. Der Engel sah aus wie eine scheintote Taube, aber ein Detail hatte Nils mit erstaunlicher Beobachtungsgabe nachgezeichnet, nämlich das Muster am Saum des Gewandes. Amelie hatte nie so genau hingesehen, und vermutlich lag es an Nils ungelenker Feinmotorik, dass sie es erst jetzt richtig erkannte, aber die Schnörkel bildeten ganz eindeutig eine Botschaft. Da stand in roter Kindergartenschrift das Wort ERLÖSUNG.  
Als es an der Tür klingelte, zuckte Amelie zusammen. Das mussten Molla und Anton sein.
"Ich mach auf!", rief Amelie und eilte zur Tür.
Nachdem sich die beiden ihren Eltern vorgestellt hatten und die Mäntel an der Garderobe verstaut waren, führte Amelie die Gäste ins Wohnzimmer, wo bereits der Tisch für den Besuch gedeckt war. Eine Kanne Tee dampfte auf dem Stövchen, Milch und Kandis standen bereit, und auf der Kuchenplatte lagen Amelies selbst gebackene Lebkuchen.
"Dann erzählen Sie mal, was genau Sie zu uns führt", begann Amelies Vater. "Amelie sagte, Sie hätten sich in der Puppenwerkstatt kennengelernt?"
"Ja, so ist es", antwortete Molla und rührte in ihrer Teetasse. "Amelie suchte nach einem Weihnachtsgeschenk, hatte aber nichts Passendes gefunden. Da kamen wir über Weihnachten ins Gespräch und alte Familientraditionen."
"Bei der Gelegenheit erzählte sie von dem Weihnachtsengel aus Porzellan, den Sie jedes Jahr am heiligen Abend auf die Baumspitze zu stecken pflegen", fuhr Anton fort. "Altes Porzellan und seine Historie sind ein Steckenpferd von mir", hielt Anton sich an seinen abgesprochenen Text. "Dürfte ich vielleicht erfahren, wie Sie in den Besitz des Engels gelangt sind?"
"Ja, gerne", antwortete Amelies Vater und machte Anstalten, sich zu erheben. "Warten Sie, ich hole das gute Stück mal."
"Nicht nötig!", antworteten Molla, Anton und Amelie wie aus einem Mund und sahen sich erschrocken an. Auffälliger ging es ja kaum noch.
"Nun gut, wie Sie meinen." Amelies Vater hob ergeben die Hände und setzte sich. Offenbar hatte er nichts von der kollektiven Panikattacke mitbekommen.
"Der Engel befindet sich schon seit vielen Jahren in Familienbesitz. Ich bekam ihn von meiner Mutter, die ihn ihrerseits von einem jungen Mann gleich nach dem Krieg geschenkt bekommen hatte. Damals war sie noch ein Kind, und ihre Eltern hatten den Mann, offenbar einen Deserteur, vor den Nazis versteckt. Sie wissen ja, was damals mit jungen Männern passierte, die dem Wahnwitz des Krieges entkommen wollten und sich weigerten, sich als Kanonenfutter verheizen zu lassen. Wenn man sie erwischte, war es aus mit ihnen."
"Oh, ja", flüsterte Molla und presste die Lippen aufeinander. "Eine barbarische Zeit."
"Haben Sie eine Ahnung, woher der Mann stammte?", hakte Anton nach.
"Keine Ahnung." Amelies Vater zuckte mit den Schultern. "Ich habe nie danach gefragt. Da fragen Sie meine Mutter besser selbst. Agathe Rupert."
Molla riss die Augen auf. "Habe ich richtig gehört? Ihre Mutter ist Agathe Rupert? Geborene Anselm?"
"Ja, richtig", antwortete Amelies Vater. "Meine Mutter ist eine geborene Anselm. Sie lebt in einem Seniorenheim. Besser gesagt, in einer Senioren-WG mit medizinischer Betreuung. Sie ist noch ganz fit und besorgt ihren Haushalt selbst, aber sie schätzt es, dass zur Not jederzeit Hilfe in der Nähe ist. Wenn Sie mögen, gebe ich Ihnen ihre Telefonnummer, dann können Sie selbst mit ihr in Kontakt treten. Morgen kommt sie von ihrem Mallorcaurlaub zurück, dann können Sie sie nach dem Engel fragen."
Molla nickte nachdenklich und trank ihren Tee aus. "Gut, so machen wir es. Vielen Dank, Herr Rupert, dass Sie uns Ihre Zeit geopfert haben."
"Das war wirklich sehr freundlich von Ihnen", stimmte Anton zu und stand auf.
Während sie sich von Amelie in ihre Mäntel helfen ließen, flüsterte Amelie Anton ins Ohr: "Ich habe etwas entdeckt. Besser gesagt, mein Bruder hat es entdeckt. Seht euch das mal an." Sie schob die Zeichnung mit dem Engel in Antons Manteltasche und nickte vielsagend. Anton zwinkerte zum Zeichen, dass er verstanden hatte, und folgte Molla nach draußen, wo es begonnen hatte, zu schneien. 


06. Dezember 2015 - erzählt von Angelika Lauriel

Molla und ich blickten dem Mädchen hinterher, dann - als wäre es abgesprochen - schloss Kurt seinen Laden wieder ab und winkte uns beiden Altchen gutmütig nach hinten, wo er einen kleinen Büroraum besaß. Kurt hatte das Spielwarengeschäft von seinem Vater übernommen, und bald würde seine Schwiegertochter, die jetzt bereits mit in dem Geschäft arbeitete, ihn weiterführen, weil es für Kurt Zeit wurde, in Rente zu gehen. Wie ich ihn kannte, würde er sicherlich trotzdem oft zur Verfügung stehen, denn er liebte seinen Laden.
Es hatte eine Zeit gegeben, in der ich Kurt Nachhilfeunterricht gegeben hatte, und danach hatten wir uns angefreundet, obwohl uns 14 Jahre Altersunterschied trennten. Ich war inzwischen bereits seit über zwanzig Jahren in Pension. Was war ich froh gewesen, dass ich den Schuldienst hatte hinter mir lassen können, bevor die Digitalisierung der Welt mit PC und Internet so richtig Fahrt aufnahm. Ich besaß zwar einen PC und Internetzugang, nutzte auch beides, aber wirklich fit fühlte ich mich nicht damit. Von Gugel hatte ich schon gehört, aber was genau das war, wusste ich nicht. Wie gut, dass Kurt sich damit auskannte.

Wir drei versammelten uns um Kurts Schreibtisch, der Händler startete seinen Klein-Computer und tippte Gugel in einer ganz anderen Schreibweise in eine Zeile ein. Über "Google" fand er zu dem Suchwort "Wasserzeichen Einhorn" fast zehntausend Einträge. Er lehnte sich zurück und grinste uns an.
"Na, das ist doch mal ein Anfang", sagte er. Zielstrebig klickte er auf einen der Einträge und begann sofort zu lesen. "Aha, sieh mal an", murmelte er. "Das Einhorn war bis in die Fünfzigerjahre hinein als Wasserzeichen bekannt, und zwar vor allem in der Sowjetischen Besatzungszone ... Mal weiter lesen ..."
Ich sah Molla an. Woher mochte der Zettel stammen?
"Hast du Sütterlin noch in der Schule gelernt?", fragte ich sie.
Sie nickte bedächtig. "Ja, klar, ich habe die Schrift noch gelernt, aber dann wurde sie abgeschafft, als ich Teenager war, wie man das heute nennt, quasi mit Beginn des Kriegs."
"Und ich erinnere mich, dass wir sie später irgendwann doch nochmal lernen sollten, aber nur zwei Jahre lang oder so. Das war ein Durcheinander. Na immerhin, lesen kann ich sie noch."
"Hört mal, ich habe da gerade noch ..." sagte Kurt, da klingelte das Telefon. Er ging sofort ran. "Ja, bitte? ... Amelie? ... Ja, die beiden sind noch hier. Wir sind gerade auf einer Seite über Wasserzeichen gelandet. ... Achso, da hast du recht ... Ich gebe dir mal Anton, warte."
Ich nahm das schnurlose Telefon entgegen, das Kurt mir hinhielt. "Hallo?"
"Anton, hier ist Amelie. Ich bin schon eine Viertelstunde online und checke gerade die Wasserzeichen ... und da dachte ich, es ist Quatsch, wenn ihr das auch macht. Oder?"
"Ein kluger Gedanke ..."
"Und ich will ja unbedingt noch mit Papa reden wegen des Engels. Also nicht wegen der Scherben, sondern ich will nachfragen, ob er mir mehr darüber sagen kann, wie der Engel ursprünglich in unsere Familie gekommen ist." 
"Ja, das ist ein guter Plan."
"Er kommt aber erst heute Abend heim. Und da habe ich mir überlegt: Wie wäre es denn, wenn du einfach zu uns kommst und wir gemeinsam nachfragen. Wir sagen, ich hätte dich im Geschäft getroffen und dir von dem Engel erzählt, und dass du dich dafür interessierst. Und Molla kann dann auch mitkommen."
"Ähm, ja, das ist eine sehr gute Idee."
"Okay, heute Abend so ab halb sechs. Dann ist Papa da. Ich backe uns noch Lebkuchen. Aber denkt dran, ihr dürft mit keinem Wort erwähnen, dass der Engel zu Bruch gegangen ist, okay?"
"Ja, okay. So machen wir es."
Ich notierte Amelies Adresse, dann erzählte ich Kurt und Molla, was wir vereinbart hatten.
"Ich muss jetzt meinen Laden wieder öffnen, die Mittagspause ist vorbei", erklärte Kurt. "Wenn ich das richtig sehe, kommt ihr aber auch ohne mich zurecht. Haltet mich auf dem Laufenden. Vielleicht kann ich euch mit meinen Mitteln auch noch bei irgendwas helfen."
Molla und ich verließen den Laden.
"Dann gehe ich jetzt heim und halte meinen Mittagsschlaf", erklärte Molla vor der Tür. "Sag mir nochmal, wo das Mädchen wohnt."
Ich erklärte ihr den Weg.
"Und wie heißt die Familie mit Nachnamen?", fragte Molla.
"Rupert", antwortete Anton.
"Ist das dein Ernst?"
"Ja, sie hat es mir gerade gesagt."
Molla bekam große Augen. "Das ist mir jetzt fast unheimlich!"


05. Dezember - erzählt von Heike Schulz

"Dann ist sie also wahr?" Der alte Mann schaute die Frau, Molla hatte er sie genannt, mit großen Augen an. "Die Geschichte mit dem jungen Mann?"
Molla legte ihre runzelige Hand auf seine und nickte stumm.
Das alles war ja ganz gut und schön, aber wie sollte Amelie das helfen, den Engel wieder so zu reparieren, dass niemand den Schaden bemerkte? Sie räusperte sich vernehmlich und blickte zu den drei alten Augenpaaren auf.
"Und was mache ich jetzt?", fragte sie mit piepsiger Stimme.
"Was genau weißt du über den Engel?", fragte der Mann, Anton, und tippte auf den Karton.
Amelie zuckte mit den Schultern. "Nicht viel", murmelte sie. "Er gehört schon lange meiner Familie. Papa hat ihn von seiner Mama bekommen, meiner Oma. Und sie bekam ihn von einem fremden jungen Mann. Woher der ihn hatte, weiß ich nicht."
"Kann ich den Zettel nochmal sehen?", fragte Anton und rieb sich das Kinn.
"Klar, hier ist er." Amelie reichte ihm das Stück Papier und beobachtete, wie der alte Mann es befühlte, daran schnupperte und schließlich gegen das Licht hielt.
"Da ist ja ein Wasserzeichen", stellte er überrascht fest, kramte in seiner Jackentasche, zog eine Lesebrille heraus und setzte sie sich auf die Knubbelnase.
"Ja, weiß ich", antwortete Amelie und scharrte ungeduldig mit den Füßen. Zu Hause warteten sie sicher bereits mit dem Essen auf sie, und das hier sah nicht so aus, als würde sich ihr Problem lösen. Im Gegenteil - es taten sich immer neue Rätsel auf, und auch wenn die drei alten Leutchen wie elektrisiert schienen, half ihr das kein Stück weiter.
"Das ist ein ... Pferdekopf oder sowas", stellte Anton nach einer Weile fest.
Der andere alte Mann, der Ladenbesitzer, schlurfte in seine Werkstatt und kam kurz darauf mit einer seltsamen Brille zurück. Statt der Gläser hatte sie zwei komische Dinger eingebaut, wie bei einem Mikroskop, und dazu Lampen an den Seiten.
"Das ist eine Uhrmacherbrille", erklärte er auf Amelies fragenden Blick und nahm den Zettel.
"Nein, das ist kein Pferd. Das ist ein Einhorn", widersprach er und zog die Stirn kraus. "Das ist schon mal ein Hinweis."
Molla, die bis dahin den Männern still zugesehen hatte, sah auf. "Wieso?"
Der Ladenbesitzer nahm die Brille ab und klappte die Bügel zusammen. "Weil dieses Wasserzeichen von einer ganz alten Papiermühle stammt, die heute nicht mehr existiert. So können wir herausfinden, aus welcher Zeit und welcher Region der Zettel stammt."
"Und wie sollen wir das machen?" Molla blickte skeptisch.
"Na, wir googeln einfach!", rief Amelie. Endlich etwas, mit dem sie sich auskannte. Bis jetzt hatte sie nämlich nicht den geringsten Schimmer gehabt, wovon die alten Leute da quatschten. "Aber jetzt muss ich langsam nach Hause. Meine Mama macht sich sicher schon Sorgen."
Molla nickte. "Ja, natürlich. Ab nach Hause mit dir." Sie nahm den Zettel, legte ihn in den Karton zu den Engelsscherben und klappte den Deckel zu. "Verrate mir nur noch eins: wie alt ist deine Oma?"
Amelie stopfte den Karton in ihren Ranzen. "Ach, die ist schon ganz alt. Nächstes Jahr feiern wir ihren achtzigsten Geburtstag. Das wird eine Riesenparty!"
Molla schien über etwas nachzugrübeln. Ihre Lippen bewegten sich stumm, dann nickte sie. "Dann ist deine Oma gerade mal neun Jahre alt gewesen, als der Krieg endete."
"Die alte Geschichte mit dem jungen Mann", setzte Anton ihren Gedankengang fort. "Was, wenn sie eine Art Prophezeiung war?" Dann wandte er sich an Amelie. "Mädchen, lauf nach Hause, damit du pünktlich zum Essen kommst. Und dann versuche mal herauszufinden, wie genau der Engel in den Besitz deiner Familie gelangt ist. Vielleicht kann dir dein Papa ja dabei helfen. Ich versuche, etwas über dieses Wasserzeichen herauszufinden. Das mit diesem Gugel oder wie das heißt, kann doch nicht so kompliziert sein. Und morgen treffen wir uns hier wieder und tragen zusammen, was wir in Erfahrung gebracht haben. Wäre doch gelacht, wenn wir das Geheimnis um den Engel nicht lösen können."
Amelie nickte eifrig. Ein Kribbeln ging durch ihren Körper. Ganz eindeutig, hier geschah etwas Aufregendes, auch wenn sie jetzt noch nicht wusste, wie ihr das bei ihrem Problem helfen sollte. Wenn sie die Spur des Engels zurückverfolgten, würden sie vielleicht auf einen Ersatz-Engel stoßen. Oder auf etwas ganz anderes, das noch viel toller war.
Amelie schulterte ihren Ranzen, bedankte sich bei den Leuten und lief nach Hause. Dabei grübelte sie darüber nach,  wie sie ihrem Vater ihre Familiengeschichte entlocken konnte, ohne Verdacht zu erregen.


04. Dezember - erzählt von Angelika Lauriel

Ich stand in meinem Stammladen und bekam den alten Pappkarton mit den Scherben nicht mehr aus dem Sinn. Kurt, der Puppenbauer, hatte dem Mädchen klar gesagt, dass er den Engel nicht reparieren konnte. Ich wusste, dass ich noch nie einen solchen Karton - und auch einen solchen Engel - gesehen hatte, aber in meinem Kopf arbeitete es. Da war doch was ... vor vielen Jahren, als ich noch ein Knirps war. Ich seufzte und machte mich bereit, den Laden zu verlassen. Während ich zur Tür schlurfte, sagte ich mir zum hundertsten Mal, dass ich endlich meine Besuche in der Spielwarenhandlung meines Freundes reduzieren sollte. Was brachten sie mir denn noch? Mit fast achtzig Jahren hatte ich wirklich genug Spielsachen gekauft für ein Leben. Trotzdem konnte ich mich nicht davon lösen, obwohl die gesamte Welt mittlerweile einen anderen Rhythmus hatte und in wahnwitzigem Tempo mit Gepiepe, Geblinker und immer kleiner werdenden Spielkonsolen vor sich hin raste.

Aber als ich die alte Porzellanpuppe sah, die in ihrem Glaskasten saß und lächelte, wusste ich wieder, warum. Weil ich diesen Laden mindestens so sehr liebte, wie sein Besitzer. Weil ich Kinder liebte. Und weil mir der Stamm an Kunden, die hier noch einkauften, so sympathisch war. Schade nur, dass das kleine Mädchen - Amelie hieß sie, sie kam oft mit ihrem Bruder und ihrer Mutter hierher - mit hängenden Schultern hatte gehen müssen. Aber mein Freund hatte recht gehabt, der Engel war nicht mehr zu retten gewesen.

Gerade zog er den Schlüssel aus seiner Kitteltasche, um ihn in das Schloss zu stecken, da riss die uralte Molla die Tür auf und zog Amelie am Arm in das Geschäft herein. Verdutzt machten wir beide einen Schritt zurück. Wie lange hatte ich sie nicht mehr gesehen? Sie war fast zehn Jahre älter als ich und vermied es bei Schnee und eisigem Wind meistens, nach draußen zu gehen. Molla hatte damals in meiner Nachbarschaft gewohnt. Wenn Bombenalarm war und wir uns alle im Gewölbekeller der Strucks trafen, kümmerte sie sich um mich. Sie las mir manchmal aus ihrer Deutschfibel vor, die sie in der Volksschule benutzten. Es war lieb von ihr, mir kleinem Hosenscheißer vorzulesen. Wir waren danach Freunde geblieben und erlebten gemeinsam mit, wie sich nach dem Krieg die Zeiten besserten. Molla hatte lange Jahre für den Ladenbesitzer und dann für seinen Sohn, Kurt, gearbeitet. Sie nähte die schönsten Puppenkleider und stellte sich auch beim Fertigen von Stofftieren und Schlenkerpuppen sehr geschickt an.
Als sie mich jetzt ansah, stumm und mit einem Ausdruck im Blick, den ich seit den Nachkriegsjahren nicht mehr gesehen hatte, regte sich etwas tief in mir drin. Etwas, das ich vergessen geglaubt hatte, und das ich auch nicht sofort zu fassen bekam.
Amelie stand zwischen uns, ihre Wangen waren erhitzt, und sie blinzelte von Molla zu mir. In der Hand hielt sie den Pappkarton, während Molla mir eine Handvoll Porzellanscherben entgegenstreckte. Ich bat meinen Freund, die Tür zu verschließen, und winkte die beiden in den hinteren Bereich des Geschäfts.

"Anton, was sagst du dazu?", fand Molla endlich Worte. Ich runzelte die Stirn.
"Ich weiß nicht so recht. Reparieren kann man diese Figur nicht mehr. Die Scherben sind zu klein."
"Ja, das sehe ich auch", versetzte Molla. In ihren Augen sah ich die ungeduldige Rebellin von damals aufblitzen. "Aber erkennst du, was das ist?"
"Das ist der Porzellanengel von meiner Oma", sagte Amelie. "Sie hat ihn als Kind geschenkt bekommen, und wir setzen ihn jeden Heilig Abend auf die Christbaumspitze." Die Kleine zog die Nase hoch, ihre Augen glänzten verdächtig. "Aber jetzt geht das nicht mehr, er ist futsch."

"Sag mal, Kleine", wandte Molla sich an das Mädchen.
"Ich heiße Amelie", sagte diese und zog nochmals vernehmlich die Nase hoch.
"Ein schöner Name", murmelte Molla, bevor sie weiter sprach. "Hast du vielleicht noch etwas anderes gefunden, als der Engel zu Bruch ging?"

In meinem Kopf rumorte es. Da war doch was ... Eine alte Geschichte, die Molla mir erzählte, wenn sie das Deutschbuch nicht mit in den Bunker gebracht hatte. Wenn wir die Nacht dort unten verbringen mussten und ich keinen Schlaf fand. Meine Mutter konnte mich nicht in die Arme nehmen, weil sie ja meine kleine Schwester versorgen musste, die war damals noch ein Wickelkind. Mein Vater war natürlich im Krieg, genau wie der von Molla. Und Molla flüsterte mir ins Ohr, wenn ich mit weit offenen Augen auf dem Lumpensack lag, der uns als Bettstatt diente, und nach draußen lauschte. Hatten die Luftangriffe aufgehört?

Sie erzählte von den Zeiten vor dem Krieg und wie schön es danach wieder werden würde. Sie erzählte mir Märchen, wie das von dem Mädchen mit den Schwefelhölzern, Hänsel und Gretel, Schneewittchen. Manchmal erfand sie selbst Geschichten. Eine handelte von einem Engel, der sich aus lauter Kummer über die Kriege in der Welt in eine Porzellanfigur verwandelte. Und von einer Frau, die diesen Engel besaß und fest daran glaubte, dass er Wunderkräfte hatte. Deshalb verschenkte sie ihn eines Tages, als sie einen traurigen jungen Mann kennenlernte, der seine Heimat verlassen hatte, um vor dem Tod zu fliehen, und der in unser Land zog, weil er daran glaubte, dass er dort Hilfe finden würde.

Diese Geschichte fiel mir plötzlich wieder ein. Glasklar sah ich den Zettel vor mir, als hätte Molla ihn selbst geschrieben. Bedächtig öffnete ich den Karton und sah mir die Scherben genau an, schob sie vorsichtig mit dem Zeigefinger hin und her. Aber nein, kein Zettel lag dazwischen. Ich konnte jedoch einen Teil des Röhrchens sehen, das Molla mir damals genau beschrieben hatte, und hob es hoch.
"Sag, Amelie, war in diesem Röhrchen vielleicht eine Botschaft versteckt?"
Amelie riss die Augen auf. "Ja", hauchte sie, stellte ihren Ranzen ab und öffnete ihn, dann kramte sie darin herum und zog ihr Mäppchen hervor. Aus einem kleinen Seitenfach zog sie ein eckig gefaltetes Stück Papier heraus, öffnete es umständlich und zeigte uns das Wort, das in Sütterlin darauf geschrieben stand.

Ich sah zu Molla, die sich die Hand vor den Mund geschlagen hatte.
"Molla", sagte ich. "Ich ... ich hatte immer geglaubt, du hättest diese Geschichte erfunden."


03. Dezember - erzählt von Heike Schulz

Ungläubig starrte Amelie den Zettel an. Er musste seit Ewigkeiten ganz hinten in der Röhre gesteckt haben, mit der man den Engel auf der Tannenbaumspitze befestigt. Aber wer hatte ihn dort versteckt? Und wann? Und vor allem, warum?  Die Handschrift sah altmodisch aus, wie die ihrer Oma. Auch das Papier sah ungewöhnlich aus. Irgendwie viel dicker als das aus ihrem Schulheft, und auch nicht so glatt. Beinahe wie selbst gemacht. Sie hielt den Zettel gegen das Licht und entdeckte ein paar merkwürdige, helle Schnörkel, wie auf einem Geldschein. Wasserzeichen hatte Papa es mal genannt. Ja, das komische Papier trug ein Wasserzeichen. Es sah beinahe aus wie ... ja, wie ein Pferdekopf. Wenn sie herausfinden konnte, wann und wo dieses Wasserzeichen verwendet wurde, hätte sie einen ersten Anhaltspunkt. Im Internet würde sich bestimmt ein Hinweis finden lassen.
Aber zuerst stand sie vor einem ganz anderen Problem, nämlich dem zertrümmerten Weihnachtsengel. Mama würde ihr die Hölle heiß machen, wenn sie bemerkte, dass das Familienerbstück hin war. Einfach so in den Laden gehen und einen Ersatz kaufen war nicht drin. Selbst wenn sie wie durch ein Wunder exakt den gleichen Engel finden würde, vielleicht auf Ebay oder einer anderen Flohmarktseite, war das Ding sicher ein Vermögen wert und unbezahlbar. Vielleicht konnte der Puppendoktor in der Stadt helfen. Er hatte mal ihrem Teddy neue Glasaugen verpasst, und im Schaufenster lagen jede Menge alter Puppen aus allen möglichen Materialien, die er bereits gerettet hatte. Bestimmt hatte er einen Superkleber oder eine Spezialmaschine, mit der man den Engel wieder so zusammensetzen konnte, dass niemand mehr den Schaden bemerkte.


Amelie klemmte den Karton unter den Arm, zog an der Leine, die an der Glühbirne baumelte, und kletterte durch die Luke nach unten. Eilig schob sie den Karton unters Bett, wusch sich die Hände und setzte sich an den Abendbrottisch. Es fiel ihr schwer, unter Mamas und Papas arglosen Blicken so zu tun, als sei alles in Ordnung. Jeder Bissen ihres Wurstbrots klebte ihr am Gaumen, und als sie einen Blick zu Nils warf, schien es ihm ähnlich zu gehen. Mit gesenktem Kopf pulte er an seiner Käsescheibe und schwieg vor sich hin. Es fühlte sich fast wie eine Erlösung an, als sie endlich fertig waren und aufstehen durften.


"Alles in Ordnung mit euch?", fragte Mama, als sie den Tisch abräumten. "Ihr wart sehr schweigsam vorhin."
Amelie und Nils tauschten einen raschen Blick, worauf Nils demonstrativ gähnte. "Bin sooo müde", erklärte er. "Hab heut den ganzen Tag gespielt."
"Na, dann ab mit dir ins Bad und danach gleich in die Federn, junger Mann", lachte Papa und stellte die Käseglocke in den Kühlschrank.
"Ich geh auch gleich schlafen", stimmte Amelie zu. "Wir werden morgen in Geschichte abgefragt. Da will ich fit sein."
Sie stellte den letzten Teller in den Geschirrspüler, klappte das Gerät zu und ging ins Bad.


Die halbe Nacht wälzte sie sich schlaflos im Bett herum, und als sie am nächsten Morgen aufwachte, fühlte sie sich wie gerädert. Beinahe hätte sie vergessen, den Karton mit dem zerbrochenen Engel in den Ranzen zu stecken und musste sich ziemlich beeilen, um den Schulbus noch zu erwischen. Der Geschichtsunterricht war natürlich ein Reinfall, sie hatte sich einfach nicht auf die Jahreszahlen der französischen Revolution konzentrieren können, und als sie tief in Gedanken versunken den Laden des Puppendoktors betrat, fühlte sie sich hundsmiserabel.
"Tut mir Leid, aber da kann ich dir leider nicht helfen", antwortete er auch prompt, als er die Bescherung in dem Karton begutachtete. "Das war sicher mal ein schönes und wertvolles Stück, aber es so zu reparieren, dass man den Schaden nicht mehr sieht, ist unmöglich." Er schüttelte bedauernd den Kopf.


"Danke", murmelte Amelie, verabschiedete sich und verließ mit hängendem Kopf den Laden. Sie achtete kaum darauf, wohin sie ging und stolperte geradewegs in eine alte Frau hinein. Der Karton mit dem Engel knallte auf den Bürgersteig, der Deckel sprang auf und ein paar Scherben verteilten sich auf den Gehwegplatten.
"Menschenskind, Mädchen!", rief die Frau. "Pass doch auf, wo du hin läufst!" Sie funkelte Amelie böse an, dann fiel ihr Blick auf den Karton. Mit einem Schlag wich die Zornesröte aus ihrem Gesicht und sie wurde bleich wie Magerquark.
"Wo hast du den her?", flüsterte sie atemlos und fasste Amelie am Jackenärmel. "Komm mit, ich muss mit dir reden."



Wer ist die alte Frau und was will sie? Lesen Sie morgen, was mir dazu eingefallen ist.


02. Dezember - erzählt von Angelika Lauriel

Nils schlug sich die Hand vor den Mund und stand mit großen, runden Augen da, aus denen sich Tränen abseilten, um über seine runden Wangen zu kullern. Amelie schaffte es nicht, den Mund zuzuklappen oder einen Ton zu sagen, sie starrte nur stumm auf die Porzellansplitter, die sich auf dem Holzboden großflächig verteilt hatten. Beide gaben sie keinen Mucks von sich, minutenlang. Wie schockgefroren standen sie und konnten nicht fassen, was gerade geschehen war. Der Engel war kaputt. Der ENGEL!

"Mist", flüsterte Amelie endlich, "Mist, Mist, Mist!" Dann ließ sie sich auf die Knie runter und begann mit fliehenden Fingern, die Scherben zusammenzuschieben.
"Amelie, es tut mir so leid!" Nils Stimme zitterte.
Sie sah kurz zu ihm auf, verzog das Gesicht wie im Schmerz, aber sie schimpfte ihn nicht aus. Was brachte das schon?
"Hilf mir! Wir müssen alles einsammeln und dann irgendwie den Engel reparieren ..." Sie hielt zwei größere Stücke aneinander. Die Hälfte eines Flügels und die gefalteten Hände waren zu erkennen. Aber es lagen so viele kleine Stücke herum, Splitter geradezu. Aussichtslos, den ganzen Engel wieder zusammensetzen zu wollen! Trotzdem ging auch Nils in die Knie und sammelte gemeinsam mit ihr gewissenhaft die Scherben ein. Sie legten sie in die Schachtel.

"Nils?", erklang weit unten Mamas Stimme. Er zog heftig den Atem ein.
"Wo bist du denn?"
"Mann, Mama sucht nach dir. Du musst runter, schnell! Lass sie auf keinen Fall heraufkommen! Sie darf das nicht sehen!" Amelies Hände zitterten noch stärker als vorher, während sie weiter Scherben in den Karton räumte. Nils drehte sich bereits um, um zur Luke zu kriechen, da sah er unter seinem Knie etwas. Auch Amelie erblickte das angegilbte Stück Papier sofort.

"Nils, bist du da oben?" Jetzt war Mama schon an der Leiter. Amelie schnappte sich den Zettel, der zu einem kleinen Viereck zusammengefaltet und dann anscheinend gerollt worden war, und schob ihn in ihre Westentasche. Nils schloss sorgfältig den Karton, in dem jetzt alle Scherben lagen, und seine Schwester legte ihn zurück in die riesige Box mit dem restlichen Weihnachtsschmuck. Keine Sekunde zu spät!

"Da bist du ja. Nils, dein Bett liegt noch voller Spielzeug ..." Mama stieg auf den Dachboden und kam gebückt näher. Sie hatte die Stirn gerunzelt. "Nichts anfassen, hörst du? Deine Schwester ist schon groß und darf deshalb dieses Jahr den Christbaumschmuck überprüfen. Wenn du so alt bist wie sie, darfst du das auch." Sie blickte in die große Kiste, dann auf die kleineren Kartons mit den bereits kontrollierten Kugeln und auf die anderen Sachen neben der Box.
"Ah, du kommst gut voran, Amelie. Alles okay?" Sie griff nach dem Korb mit den Gegenständen, die repariert werden mussten. "Ist ja nicht viel dieses Jahr, hm?"
Amelie schüttelte stumm den Kopf. Hoffentlich sah Mama nicht, wie sehr ihre Finger noch immer zitterten. Nils' Augen erinnerten sie derweil an die von Gollum, so groß und ängstlich blickte er drein. Mit den Zähnen kaute er auf der Unterlippe herum, als wäre es Kaugummi. Unaufhaltsam bewegte sich Mamas rechte Hand nun zu der großen Box, sie strich über die Packungen darin und blieb auf dem alten, abgestoßenen Karton liegen. Amelies Herz wollte stillstehen.

"Den Engel brauchen wir erst ganz zum Schluss, ihn setzen wir erst an Heilig Abend auf die Spitze des Baumes." Sie streichelte über den Karton, als wäre es ein altes Lieblingsstofftier. "Das ist das Wertvollste, was wir im Haus haben, das weißt du, Amelie, nicht? Oma hat diesen Engel von einem Fremden bekommen, als sie ein Mädchen war. Das war nach dem Krieg, und der Fremde bedankte sich damit, weil er von Uroma und Uropa aufgenommen worden war. Es muss ein ganz besonderer Engel sein!"
Amelie nickte stumm. Wenn Mama nur nicht den Karton nahm und die Scherben darin klirren hörte! Doch sie zog die Hand zurück und legte einen Arm um Nils' Schultern.
"Der Fremde sagte damals,  dass Oma den Engel haben sollte, weil er sonst nichts hatte, um seinen Dank zu zeigen." Sie schob Nils sanft zur Falltür. "So, und jetzt ab runter, räum dein Bett leer, wir wollen gleich zu Abend essen." Sie ließ ihn zuerst hinunterklettern, dann folgte sie ihm. "Amelie, wenn du alles durchgesehen hast, räum die Kartons wieder in die Box und stell sie für Papa bereit, damit er sie morgen herunter holen kann. Dann darfst du den Baum schmücken."

Als Mama und Nils nicht mehr zu sehen und zu hören waren, zog Amelie endlich die Hand aus der Westentasche. Der Zettel war feucht von ihrem Schweiß. Sorgsam faltete sie ihn auseinander. Er roch nach Staub und irgendwie trocken. Das Papier war sehr fest und hatte ein paar winzige, bräunliche Flecken. Als sie es ganz geöffnet hatte, sah sie, dass etwas darauf geschrieben stand. Zuerst konnte sie das einzelne Wort nicht entziffern, weil es in einer eigenartigen, altmodischen Schrift geschrieben war. Aber dann erinnerte sie sich, wie ihre Oma ihr die altdeutsche Schrift erklärt und viele Buchstaben gezeigt hatte, und nach wenigen Minuten war sie sich ganz sicher, dass sie richtig las, was jemand vor vielen, vielen Jahren auf dieses Blatt geschrieben hatte, um es dann in dem Porzellanengel zu verstecken. Kein Zweifel, das Wort lautete "Hilfe".

 

Ein Hilferuf aus der Vergangenheit? Was hat es damit auf sich? Morgen forscht Heike weiter nach.

01. Dezember - erzählt von Heike Schulz

Vorsichtig hob Amelie den Deckel der großen Kiste an und lugte in ihr geheimnisvolles Innere. Wie sehr hatte sie sich auf den Augenblick gefreut, an dem sie endlich, endlich groß genug war, um diese wichtige Aufgabe übernehmen zu dürfen.
"Geduld, mein Schatz", hatte ihre Mutter sie von Jahr zu Jahr vertröstet, aber nun war es endlich soweit. Nun war sie mit ihren zwölf Jahren groß genug, um den Weihnachtsschmuck vom Dachboden zu holen und zu inspizieren. Wie jedes Jahr würde ihre Mutter damit auch an diesem ersten Dezember die prächtige Nordmanntanne schmücken, die Papa und Nils von der Gärtnerei geholt hatten, aber vorher musste jedes einzelne Stück auf Beschädigungen und seine Vollständigkeit geprüft werden.
Mal war während der Lagerung eine der glänzenden Glaskugeln matt geworden oder hatte sich der Leim an den hölzernen Sternen gelöst. Dann polierte Papa die angelaufenen Stücke sorgfältig mit einem Flanelltuch blank und leimte die beschädigten Teile, damit sie ihre volle Pracht am Weihnachtsbaum entfalten konnten. Viele der Stücke waren älter als Amelie selbst, und eins sogar älter als ihre Mutter und ihre Oma zusammen.
Amelie klappte den Deckel der Kiste vollständig auf, musterte die Schachteln mit Christbaumkugeln, Holzsternen, Strohpüppchen und glitzernden Schleifen, die darin lagen, und stellte sich vor, sie aus einem langen Schlaf zu wecken. Es roch ein bisschen muffig nach Dachboden und Staub, aber als Amelie die Nase tiefer in die Kiste steckte, glaubte sie, eine Spur von Tannengrün und Plätzchen vom letzten Jahr zu riechen. Sachte holte sie eine Schachtel mit glänzend roten Kugeln heraus, hielt jede einzelne gegen das Licht der Glühbirne, die vom Dachbalken baumelte, und nickte zufrieden. Kein Sprung, kein Fleck, alles okay. Sie legte die Kugeln zurück in die Mulden aus Seidenpapier, stellte die Schachtel auf dem Boden ab und nahm sich den nächsten Karton vor, als hinter ihr die Bodentür knarzte.
"Was machst du denn hier?" Neugierig schob Nils seine Nase herein und strahlte. "Boh, der Weihnachtsschmuck!", staunte er. "Zeig her!" Flink kletterte er die Treppe herauf und tappste, bereits im Schlafanzug, zu Amelie.
"Geh weg, dafür bist du noch zu klein", maulte Amelie und klappte den Deckel zurück auf die Kiste.
"Ach, bitte, bitte, Ami, lass mich doch gucken", bettelte Nils und setzte seinen Welpenblick auf, von dem er mit seinen fünf Jahren genau wusste, dass seine große Schwester ihm nicht widerstehen konnte.
Amelie sah ihn streng an, schaute über die Schulter zur offenen Bodenklappe und hielt den Finger vor die Lippen. "Okay, aber du musst ganz leise sein. Und nur gucken, nicht anfassen, verstanden?"
Nils zog die Stirn kraus und nickte ernst. "Verstanden", rief er und schlug sich sogleich die Hände vor den Mund.
Amelie öffnete die Kiste und zeigte auf die verschiedenen Schachteln. "Also, das da sind die goldenen Kugeln, die muss ich noch checken. Die roten dort habe ich schon."
Andächtig beobachtete Nils, wie seine Schwester die Kugeln eine nach der anderen gegen das Licht hielt und sie anschließend wieder verstaute. Danach waren die Strohpüppchen dran, von denen eins ein bisschen ausgefranst war. Amelie legte es in einen Korb und zog die nächste Schachtel hervor.
"Darf ich auch was schecken?", fragte Nils nach einer Weile und trat von einem Fuß auf den anderen. 
Amelie biss sich auf die Unterlippe. Eigentlich sollte er gar nicht hier sein, aber wenn er schon mal da war, konnte er ihr auch helfen. "Na gut", antwortete sie gedehnt und zog einen Stoffbeutel aus der Kiste. "Da sind die Halterungen für die Kerzen. Zähl sie mal durch und sag mir, ob die Klammern alle funktionieren."
Eifrig machte Nils sich ans Werk, während Amelie sich zu den Schleifen vorarbeitete.
"Alle heile", verkündete Nils nach einer Weile. "Sind elfundzwanzig!"
Amelie schaute von ihrer Arbeit auf und lachte. Zum Beweis hatte Nils alle Klammern an seinem Schlafanzug befestigt. Der Kleine strahlte stolz.
"Super! Dann tu sie bitte alle wieder in den Beutel und zähl mal die Kerzen. Sie sind da, in der Schachtel. Mal sehen, ob es auch elfundzwanzig sind." Mit einem Kopfnicken deutete sie auf die Kiste und wickelte die Rentiere aus Filz aus dem Seidenpapier.
"Meinst du die hier?" Nils verschwand bis zur Brust in der Kiste und tauchte mit einer Schachtel wieder auf, bei deren Anblick Amelie fast das Herz stehenblieb.
"Nein, Nils, nicht die!",  rief sie, da war es auch schon passiert.
Begeistert über seinen Fund riss Nils den Deckel von der Schachtel, machte einen Schritt auf Amelie zu, stolperte über seine eigenen Füße, und im nächsten Augenblick beschrieb der Porzellanengel, der schon seit Generationen in Amelies Familie war und der stets erst am Heiligen Abend auf die Spitze des Christbaums gesteckt wurde, einen weiten Bogen durch die Luft, ehe er auf den Holzdielen des Dachbodens in tausend Splitter zersprang.


Oh weh, und nun? Mal sehen, wie es morgen weitergeht! Dann bin ich an der Reihe ...



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