Kleine Restauflage:

Meine Schwiegermutter, das Chaos und die Liebe

Chicklit, Komödie, Liebesroman


 

 

Achtung: Dieses Buch ist vergriffen. Ich habe noch eine kleine Restauflage, die Sie zum Sonderpreis von €7 bestellen können.

 

 

Sanne gehts gut: Endlich ist ihr Zeichenatelier fertig, die Schwiegereltern wohnen wieder im eigenen Haus und mit den beiden Kindern und ihrem Mann läuft es prima.

Doch dann häufen sich die Ereignisse. Schwiegermama freut sich darauf, ihren siebzigsten Geburtstag in Sannes Haus zu feiern. Fortan beherrscht der große Tag das Leben der gesamten Familie. Dass die Zahl der geladenen Gäste täglich wächst, ist noch zu verschmerzen. Schwiegerpapa Matthias jedoch, der in dem Trubel immer ungehaltener wird, bereitet Sanne Sorgen. Plötzlich taucht auch noch Sannes kleine Schwester mit Kind und Hund auf, nistet sich bei ihr ein und fordert Aufmerksamkeit. Und Sannes Mutter? Sie hat nichts anderes im Kopf als ihren neuen Lebensgefährten.

Sanne flüchtet, indem sie ein virtuelles Tagebuch im Internet beginnt – sie bloggt. Natürlich muss sie auch ihre Illustrationen fristgerecht abliefern. Bald entgleitet ihr die Kontrolle über das Familienchaos. Wie soll sie da noch Zeit für die Liebe finden?

Lauriel liest:


"Liebevoll gestaltete Charaktere und der ganz normale alltägliche Wahnsinn, machen dieses Buch zu einem echten Lesegenuss. Von mir gibt es 5 von 5 Sternen." (Bloggerin Aly auf Lovelybooks)


"Tolle Fortsetzung! Ich kann diese beiden Bücher absolut empfehlen. LESEN LESEN LESEN!" (Leserin Katharina auf Amazon)


Leseprobe:

1
Alles neu


»Mama-a?«
   »Hm?« Verschlafen öffne ich ein Lid und sehe das Gesicht meiner Tochter in Übergröße
   vor mir. Sie genießt es in den Sommerferien, morgens zu mir ins Bett zu kriechen, bevor sie in die Welt der Großen startet und eingeschult wird.
   »Ich weiß jetzt, wer von euch beiden älter ist!«
   Hä?
   Meine Gehirnwindungen sind nach den anstrengenden drei Wochen, die ich bis vor Kurzem mit meinen Schwiegereltern verbringen musste, noch ziemlich verkatert und erfassen nicht, was mein Mausezähnchen meint. »Von uns beiden? Wen meinst du?«
   »Na, dich und die Oma natürlich.«
   Ich stöhne. Hatten wir das Thema nicht schon mal? »Und, wer ist es?«
   »Die Oma. Die hat nämlich so ein Schlabberkinn.«
   Ich pruste und öffne endlich beide Augen, ziehe meine Tochter an mich heran, um ihren Honigduft zu inhalieren. »Lass das lieber nicht die Oma hören, okay?«, murmle ich in ihr zerzaustes Haar.
   »Welche?«
   »Ähm … beide. Welche hast du denn eben gemeint?«
   »Deine Mama natürlich, Oma Hilde. Aber weißt du …«, sie schiebt einen Arm unter meinen Hals und zwirbelt mit der anderen Hand eine meiner Locken um den Finger. »Die Oma Rosemi hat auch so einen Schlabber am Kinn. So erkenne ich jetzt immer, ob jemand schon uralt ist oder nur alt … wie du.«
   Mit einem Knurren schiebe ich sie von mir weg. »Na, vielen Dank. Du bist wirklich die charmanteste Tochter, die man sich nur wünschen kann.«
   Lina kichert. Aha! Ich ahnte schon, dass sie längst nicht mehr so unbedarft-unschuldig ist, wie sie sich immer gibt. Immerhin geht meine süße Kleine in einigen Tagen in die Schule. Kurz zieht sich mein Mutterherz zusammen. So schnell werden sie groß! Aber mein Illustratorinnenherz jubelt auf: So schnell werden sie groß! Die Kinder werden in Zukunft beide morgens um halb acht aus dem Hause sein.
   Keanu, mein Ältester, muss sogar noch früher los als Lina, weil er zum Gymnasium in die Stadt fährt. Ich schlucke. Achte Klasse! Mein Sohn, den ich doch vor Kurzem erst gestillt und gewickelt habe, kommt jetzt schon in die Mittelstufe. Das war damals, als Axel ihn mir im Krankenhaus in den Arm legte, noch Äonen weit weg. Jetzt ist er mir längst über den Kopf gewachsen – seiner Ansicht nach in mehrfacher Hinsicht. Das zeigt mir sein übliches Stöhnen, als ich ihn etwas später beim Tischdecken frage, wann er den Schlafanzug aus- und die Arbeitskleidung anziehen will. Es ist immerhin schon fast elf Uhr.
   »Boah, Mam, ich habe Ferien! Jetzt chill mal!«
   Uff, immer diese neuen Formulierungen. In letzter Zeit benutze ich sie selbst, wie ich immer öfter bemerke. Statt »diffamieren« sage ich nur noch »dissen«, und »gechillt« hat in meinem Kopf »entspannt« schon fast verdrängt. Dabei weiß ich noch allzu gut, wie ich es damals als Jugendliche verabscheute, wenn mein Vertretungsvater – seit ich weiß, dass Manfred mein leiblicher Vater ist, habe ich Schwierigkeiten, die beiden im Kopf richtig zu betiteln – sich mit mir verglich und sich allen Ernstes als »Popper« bezeichnete, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, was einen Popper ausmachte. Heutzutage ist mir diese Episode meiner Jugend peinlich, und ich versuche, die Erinnerung daran zu verdrängen. Der lange Pony mit Seitenscheitel hat bei mir eh nie richtig gelegen, weil sich meine Haare trotz all meiner verzweifelten Versuche, sie zu glätten, widerspenstig kringelten. Damals fand man noch keine guten Glätteisen in den Läden.
   Wie auch immer, die Arbeitshose, die wir Keanu vor zwei Wochen gekauft haben, damit er nicht sämtliche Jeans und Jogginghosen beim Renovieren versaut, hasst er. Am ersten Tag fand er sie noch cool, aber inzwischen assoziiert er nur Arbeit damit. Was letztendlich auch der Sinn einer solchen Hose ist, wenn wir ehrlich sein wollen.
   »Kee, wie du weißt, darfst du dir, wenn wir fertig sind, zur Belohnung einen Tablet-PC aussuchen.«
   »Pah, den kriege ich eh erst zum Geburtstag. Ich kapiere nicht, wo da der Zusammenhang zu eurem blöden Umbau ist. Den braucht kein Mensch.«
   »Hm …« Wie mache ich diesem widerwilligen Halbstarken klar, was wir ihm schon seit Wochen zu vermitteln versuchen? »Du hast doch miterlebt, wie das war, als Opa Matthias und Oma Rosemarie für ein paar Wochen hier wohnten …«
   Er verdreht die Augen. »Mam, der alte Herr ist nicht in der Nähe, du kannst ruhig die Abkürzungen benutzen.«
   »Schon gut, also Opa Matz und Oma Rosemi mussten ja im Gästezimmer schlafen.«
   »Logisch, dazu ist so ein Gästezimmer da.«
   Lina kichert, enthält sich aber jeden Kommentars und stopft sich mit Cornflakes voll.
   Ich nippe an meinem Kaffee. »Schon, aber du weißt nur zu gut, dass ich das Gästezimmer davor als Atelier benutzt habe, weil dort das große Fenster zur Südseite geht.«
   Keanu nickt kauend. »Klar weiß ich das.«
   »Aber du begreifst nicht, wie sehr ich ein Atelier brauche, oder?«
   Tatsächlich ist Keanus Begeisterung für meinen Beruf schon wieder abgeflaut, die vor einigen Wochen kurz aufflackerte, als er für mich eine letzte Illustration malte, während ich im Krankenhaus lag. Bei der Aktion half er mir sehr aus der Patsche, inzwischen belächelt er meine Kinderbuchbilder eher. Er muss cool sein, versuche ich immer, mir einzureden. Vor mir kann er nicht verbergen, dass er trotzdem am Illustrieren interessiert ist, zumal er offensichtlich mein Talent zur bildlichen Darstellung geerbt hat. Jetzt markiert er allerdings den Desinteressierten. Zugegeben, ein winziges bisschen verletzt mich das. Also muss ich meine Taktik ändern. Er wünscht sich einen super Tablet-PC, und er soll auch einen bekommen, zum Geburtstag. Er hat natürlich recht, so ist es schon längst ausgemacht gewesen, bevor Axel und ich über eine Runderneuerung des Gästezimmers und den Ausbau des Dachgeschosses zu meinem neuen, lichtdurchfluteten Atelier überhaupt nachdachten. Keanu pochte ganz legitim auf sein Recht auf große Ferien, als wir mit unserer Bitte um Hilfe beim Renovieren an ihn herantraten. Um ihn trotzdem für die Arbeit im Hause zu begeistern, kam ich auf die glorreiche Idee, den Tablet-PC, den er zum Geburtstag bekommen sollte, als Trumpfkarte einzusetzen. Arbeitet er gut mit, winkt ihm der Porsche unter den Tablets, verweigert er sich, bleibt ihm die Nuckelpinne, sozusagen. Die Karte spiele ich jetzt natürlich aus.
   »Tja, du kannst selbst entscheiden – entweder du hilfst mit und suchst dir deinen Wunsch-Tablet-PC aus oder du lässt es bleiben und bekommst den, den ich dir aussuche. Und du weißt, die Rache einer verschmähten Mutter ist fürchterlich …«
   Ich lächle süffisant und beiße mit Genuss in mein Brot. Hm, wie der Quark und die Marmelade auf meiner Zunge zergehen, während der missmutig Knurrende seine Waffen streckt und die Hose von der Rückenlehne seines Stuhls angelt, um sich meinem Willen zu beugen.
   »Ich will auch helfen, Mama!« Lina verzieht den Mund zu einem niedlichen Flunsch.
   »Ich weiß, Mäuslein. Sieh mal, was wir bisher geschafft haben, war einfach noch keine Arbeit für ein kleines Mädchen wie dich.«
   Sie funkelt mich an. »Ich bin kein kleines Mädchen, ich gehe bald in die Schule!«
   Lina freut sich auf die Schule, und vor allem fiebert sie dem Tag entgegen, an dem sie ihre selbst gebastelte Piratenschultüte mit sich herumtragen darf. Die musste ich vor ihr in Sicherheit bringen. Wir hatten Mühe, sie im Kindergarten genau nach Linas Vorstellungen zu basteln. Schon nach wenigen Tagen verloren die ersten Piraten ihre Kopftücher oder Augenklappen und wirkten auf einmal gar nicht mehr finster. Lina war kreischend zu mir gekommen, und ich machte ihr mit tröstenden Worten klar, dass eine Schultüte eben für den ersten Schultag gedacht sei und sich zum Transportieren von Spielsachen aller Art nur bedingt eignete. Sie zeigte zum Glück Einsehen, nachdem wir alle verloren gegangenen Einzelteile gefunden und wieder an Ort und Stelle angepappt hatten. Jetzt liegt die Tüte unberührt auf ihrem Regal, sodass sie sie jederzeit bewundern kann.
   Ich zwinkere ihr zu, während Keanu sein Frühstück verdrückt, als befürchte er, heute nichts mehr zu essen zu kriegen. Er trägt jetzt den Blaumann … Habe ich schon erwähnt, dass er mir längst über den Kopf gewachsen ist und ganz und gar nicht mehr wie ein knapp Dreizehnjähriger aussieht?
   »Linamaus, du kannst mir morgen beim Streichen im Atelier helfen.« Das sage ich zwar nicht mit echter innerer Überzeugung, weil ich mir das Chaos lebhaft vorstellen kann, das sie verursachen wird, wenn sie Malerpinsel und Farbe zu ihrer freien Verfügung hat, aber mein Herz erträgt ihre große Enttäuschung sonst nicht. Das Gästezimmer muss nach der Renovierung den Ansprüchen meiner peniblen Schwiegermutter und ihres nicht weniger peniblen Gatten, des Deutschlehrers a. D., voll und ganz genügen.
   In meine Gedanken hinein, mit welchen Farben ich das Atelier streichen will, schrillt das Telefon. Lina und Keanu rennen um die Wette. Der Größere gewinnt natürlich. Seltsam, in letzter Zeit will er immer als Erster rangehen. Früher hat ihn das Telefon nicht interessiert.
   »Hallo? Äh, Keanu. Ach Opa, du erkennst mich doch an der Stimme …«
   Keanu kommt mit dem Hörer unseres neuen, schnurlosen Telefons am Ohr in die Küche, deutet eine Bewegung wie mit einer Handkurbel an und grinst schief. Schon klar, wer da dran ist. Jemand, der ihm erst mal sagt, dass er sich mit seinem ganzen Namen melden soll. Mein Vater, Manfred, – dem er mit diesem schiefen Grinsen wieder mal verblüffend ähnlich sieht – wird das kaum sein, sondern der andere Opa. Der Deutschlehrer a. D., dem zuliebe wir den nervigen Umbau des Gästezimmers auf uns genommen haben. Er war es, der mehr oder weniger dezent einen neuen Anstrich forderte und nebenbei erwähnte, wie klug man diese Gelegenheit nutzen könne, um einen Wasseranschluss herüberzulegen. Schließlich könne man ein älteres Ehepaar nicht nötigen, sich gemeinsam in ein kleines Bad zu drängen, und die Treppe zum Familienbadezimmer im oberen Stockwerk sei im Grunde unzumutbar. Ich hätte beinahe laut aufgelacht. Als ob Opa Matz nicht jede Gelegenheit genutzt hätte, um oben genauso wie unten im Keller »nach dem Rechten« zu sehen! Nicht mal unser Schlafzimmer hat er ausgespart. Wobei ich eingestehen muss, er tat das nicht aus Bosheit oder Neugier, sondern aus einer unschuldigen Ignoranz heraus. Seine Frau Rosemarie hat hingegen aus Gutmütigkeit mein gesamtes Haus vom Keller bis zum oberen Stock gründlich auf den Kopf gestellt, geputzt, aufgeräumt und »verschönert«, als ich die paar Tage im Krankenhaus lag. Na ja, geistig wische ich mit der Hand durch die Luft. Schnee von gestern. Axel stimmte seinem Vater zu, eine Renovierung könne nicht schaden, und mich überzeugte er natürlich sofort mit der Idee des Ateliers unterm Dach.
   Dieser Opa, Matthias Weiler, muss jedenfalls gerade am anderen Ende der Leitung sein. Ich mache Keanu ein Zeichen, damit er mit seinem respektlosen Gestikulieren aufhört, und übernehme den Hörer, nachdem er »Gut Opa, nächstes Mal melde ich mich richtig« gemurmelt hat.
   »Susanne Weiler, schönen guten Morgen, Matthias, was gibt es denn?« Die korrekte Begrüßung ist ihm wichtig; so viel Zeit muss sein.
   »Ach, guten Morgen, Schwiegerkind. Ich habe Keanu gesagt, es gehöre sich nicht, sich nur mit Hallo zu melden. Sag du ihm das bitte auch noch einmal.«
   Keanu feixt, anscheinend sieht er meinem Gesichtsausdruck an, wie das Gespräch beginnt.
   Ich schiele zur Zimmerdecke. »Mache ich. Gibt es einen Grund, weshalb du anrufst?«
   »Also deine Schwiegermutter ist gerade zum Einkaufen, deshalb wollte ich mit dir reden. Sag mal, ist dir auch aufgefallen, wie nervös sie in letzter Zeit wirkt? Es wird immer schlimmer.«
   »Hm, nein, eigentlich nicht.« Oma Rosemi war ein wenig geknickt, als sie mit ihrem Mann wieder ins eigene Haus ziehen musste, nachdem dort alles fertig war. Glücklicherweise erholte sie sich schnell und pflegt nun ihre Kontakte zu ihren Freundinnen, dem Chor und der Patchworkgruppe wieder. Ich habe sie in den drei Wochen, die sie bei uns wohnte, wirklich lieb gewonnen, trotz ihrer fast krankhaften Putzsucht. Sie hat es nicht immer leicht mit ihrem etwas despotischen Mann. Aber auch ihn habe ich durch die gemeinsamen Wochen erst richtig kennengelernt, und ich schätze sein wahres Wesen sehr. Schade, dass er es so selten hervorblitzen lässt.
   »Die Frau raubt mir manchmal den letzten Nerv.« Nanu? Solche Worte bin ich vom politisch korrekten Matthias nicht gewohnt.
   »Wieso das? Was macht sie denn?«
   »Sie ist ständig in der Stadt zum Bummeln, und wenn sie nach Hause kommt, klagt sie darüber, wie sehr die Arbeit sie anstrengt. Außerdem verlegt sie meine Sachen. Nichts ist mehr dort, wo es früher war.«
   »Matthias, ihr habt euer Haus gerade erst komplett renoviert. In neuen Schränken sucht man erst mal. Rosemi …«, rasch korrigiere ich mich, »ich meine Rosemarie hat alles neu einräumen müssen. Wirklich, es ist normal, dass man sich nicht erinnert, wo man jedes einzelne Teil hingelegt hat.«
   Er hustet kurz und entschuldigt sich dafür, bevor er weiter spricht. »Meinst du?«
   »Natürlich. Was macht deine Grippe?«
   Wieder hustet er kurz. »Ich fürchte, es geht gerade erst richtig los. Sommergrippen sind wirklich die Schlimmsten. Mit Kopfweh, Verspannung im Nacken, das volle Programm.«
   »Das tut mir sehr leid. Hast du denn Medizin zum Einnehmen?«
   »Ja, ja, wir haben alles da. So eine Grippe braucht ihre Zeit, daran kann man nichts ändern. Aber dieser steife Hals ist wirklich lästig.«
   »Willst du nicht zum Arzt gehen?«
   »Nein, das ist nicht nötig.«
   »Wie du meinst.« Diese Haltung hat Axel von seinem Vater übernommen.
   »Was ich dir noch sagen wollte, liebes Schwiegerkind, mir hat es bei euch so gut gefallen … Ich bin richtig froh über euren Entschluss, das Gästezimmer auszubauen. So haben wir bald eine Anlaufstelle.«
   Ähm … Was für Anwandlungen hat er denn jetzt? Immerhin wohnen die beiden in der nächsten Stadt, es ist nur eine Fahrt von zwanzig bis dreißig Minuten, je nach Tageszeit und Berufsverkehr. In meinem Kopf wird irgendwo eine neuronale Verknüpfung aktiviert, allerdings so subtil, dass ich nur davon ahne und das leichte Unwohlsein beiseite wische, das sie mit sich bringt.
   »Ja, es war schön, euch hier zu haben«, höre ich mich sagen, während Keanu, der sein restliches Frühstück verspeist, mir entgeistert einen Vogel zeigt. Ich schlucke. Letzten Endes habe ich wirklich Glück gehabt, dass sie da waren. Es bedeutete einerseits Stress pur, andererseits haben wir uns erst in dieser Krisenzeit wirklich kennengelernt. Für Keanu gilt das ebenfalls, selbst wenn er es anfänglich mit dem Deutschlehrer a. D. am schwersten hatte. Linamaus hat ihrerseits die Zeit mit den Großeltern in geradezu salomonischer Gelassenheit genossen. Von ihr könnte ich wahrscheinlich noch einiges lernen.
   Ich höre am anderen Ende der Leitung ein Schlucken. Erstaunt identifiziere ich es als eine gerührte Reaktion und bin froh, diese Worte gesagt zu haben. Trotzdem kann ich es mir nicht verkneifen, noch etwas hinzuzufügen in der Hoffnung, keine falschen Vorstellungen zu wecken. »Aber vorerst wird das ja nicht nötig sein. Euer Haus ist wunderschön geworden, ihr fühlt euch sicher pudelwohl.«
   Er räuspert sich. »Schön ist es durchaus … Ich kann mich nur nicht an das Suchen gewöhnen. Gerade eben habe ich etwas gesucht – was war es gleich? … Ach, Rosemarie kommt, ich muss auflegen. Tschüss!«
   Klick, hat er aufgelegt. Ich drücke auf die Taste und starre das Telefon an. Was war an diesem Anruf so merkwürdig? Er lässt mich mit einem winzigen Unbehagen zurück, das ich nicht näher bestimmen kann. Opa Matz hat nie »Tschüss« als Abschiedsfloskel benutzt … Ach, was solls. Er ist nicht mehr der Jüngste. Vielleicht weicht er die Verkrustungen seiner Korrektheit langsam doch noch auf.
   »Mami, wann darf ich dir denn im Atelier helfen?«
   »Sobald wir das Gästezimmer eingeräumt haben, machen wir uns an die Arbeit, versprochen!«
   Keanu hat sich leicht geduckt und schielt mich aus dem Augenwinkel an wie ein Hund, der etwas angestellt hat. Es wirkt so wie damals in der Schule, wenn wir Schüler uns vor dem Lehrer am liebsten unsichtbar machen wollten.
   »Hilfst du mir bitte mit den Möbeln, Kee?«, wende ich mich trotzdem an ihn.

Wir haben gestern gründliche Vorarbeit geleistet. Das große Bett, das mit einer Plastikplane bedeckt mitten im Raum stand, während wir die Wände anstrichen, mussten wir zurück an die Wand schieben. Ich habe mir dabei nur leicht den Rücken gezerrt, und Keanu hat überhaupt keine Blessuren. Den neuen schwedischen Unterschrank für das Waschbecken haben wir im Zimmer zusammengebaut, das hat prima funktioniert. Der riesige Schlafzimmerschrank und die Kommode stehen noch im Flur, die müssen wieder ins Gästezimmer hinein. Diese wirklich schweren Teile hatten wir erst mal stehen lassen in der Hoffnung, Axel würde bald Zeit finden, sich darum zu kümmern.
   Tja, anscheinend geht es in der Firma gerade hoch her. Die scheinen auf meinen Mann einfach nicht verzichten zu können. Ständig ist er unterwegs, kommt erst spät oder gar nicht nach Hause. Ich weiß wirklich nicht, wann er zum letzten Mal so viele Termine in anderen Städten hatte. Dagegen war sein Indien-Trip eine Kleinigkeit. Von dem wussten wir wenigstens früh genug Bescheid … Gut, er wusste früh genug Bescheid, mir sagte er es erst, nachdem längst feststand, dass seine Eltern genau dann für drei Wochen bei uns wohnen würden.
   Ich seufze – unisono mit Keanu, worauf wir uns angrinsen und einträchtig zum Gästezimmer dackeln, Lina biegt ab und läuft die Treppe hoch zu ihrem Zimmer. Wenigstens habe ich das Gefühl, meinem mir entwachsenden Sohn wieder näher zu sein, auch wenn ich nicht begreife, was in ihm vor sich geht. Muss eine Mutter verstehen, wohin sich ein Dreizehnjähriger in der Pubertät entwickelt?
   Im Flur stehen die exakt zwei Meter hohen Teile des Kleiderschranks. Ich sehe daran entlang und in Keanus Gesicht, der fragend die Brauen hebt.
   »Tja, Mam, die sind ein bisschen höher als du. Willst du das wirklich ohne Paps versuchen?«
   Hm, immerhin ist er selbst schon deutlich an der Zwei-Meter-Grenze, womit sein Abstand zur Oberkante der sperrigen Holzteile bei Weitem nicht so groß ist wie meiner.
   »Traust du dich nicht?«, frage ich.
   »Ich schon … aber du musst am anderen Ende angreifen, und für Zwerge war der Schrank nie ausgelegt.« Er kichert.
   Ich gehe am Kleiderschrank vorbei zur ebenfalls auseinandermontierten Kommode. Welch ein Glück, dass unsere Möbel allesamt massive Schreinerarbeit sind. Dafür hat mein Vertretungsvater – also derjenige, den ich fast vierzig Jahre für meinen Paps hielt – gesorgt, als Axel und ich heirateten. Paps war im Herzen ein Schreiner, auch wenn er seinen Beruf in einem Büro im Rathaus ausübte. Er hat Holzarbeiten geliebt. Meinen Zeichentisch hat er damals gebaut, und da wir uns auf sein Urteil verlassen konnten, war es mir wichtig, die Möbel für Axel und mich gemeinsam mit ihm auszusuchen. Ich nehme die Kommode nochmals ins Visier. Die ist nicht so hoch … Und die einzelnen Schubladen entsprechen gerade noch meiner Gewichtsklasse. Ach, welch eine Erleichterung, wenn die Möbel endlich wieder aus dem Flur verschwinden.
   »Komm, lass uns mit der Kommode anfangen. Die schaffen wir.«
   »Okay.« Keanu nimmt die beiden Seitenteile und trägt sie ins Gästezimmer, ohne zu murren. Beinahe sieht es aus, als mache ihm die Arbeit Spaß. Komisch.
   Eine halbe Stunde später fluche ich darüber, dass wir den Korpus der Kommode überhaupt auseinandergeschraubt haben. »Warum waren wir nur so bescheuert? Wir hätten doch die gesamte Kommode in den Flur stellen können.«
   »Nee, da stand schon der große Schrank. Die Kommode passte nicht hinein.«
   Typisch. Er weiß es immer besser.
   Ich schnaube, während ich mich abmühe, das Seitenteil weiter senkrecht zu halten, damit Keanu es an der Rückwand festschrauben kann. Welcher Idiot hat damals nur diese Massivholzmöbel angeschafft?
   »Dann hätten wir den Schrank eben in den Keller tragen müssen.«
   Keanu mustert mich, die Augen zusammengekniffen, sodass ich sofort wieder an meinen echten Vater Manfred denken muss, und legt einen »Typisch-Frauen«-Ausdruck in seinen Blick. »Da unten steht dein Maltisch. Und das ganze Chaos, das du dort angerichtet hast, bevor Oma und Opa zu uns kamen, ist ebenfalls noch nicht wieder zurückgebaut.«
   Ich puste mir eine nervige Locke von der klebrigen Stirn. »Pah!«
   »Oma Rosemi hat echt versucht, Ordnung zu schaffen, aber die Sachen wegzuschmeißen, die keine Sau mehr braucht, das hat sie sich nicht getraut. Da hat sie zu große Angst vor dir.«
    Ich glaube, ich höre nicht richtig! »In dem Ton hast du nicht mit mir zu reden, junger Mann!«
    Er stöhnt. »Mam, mein Ton war völlig in Ordnung. Dich stört viel mehr der Inhalt. Halt fest«, ruft er und dreht am unteren Ende die nächste Schraube ein.
   Eine Sekunde schweige ich beeindruckt. Das Grinsen, das sich bei meiner fehlenden Antwort auf sein Gesicht stiehlt, erinnert mich jedoch daran, wie wichtig eine schlagfertige Antwort ist, sonst stehe ich hier auf verlorenem Posten. »Äh …«
   Er lacht auf.
   Wenig später haben wir es geschafft: Beide Seitenteile, Oberteil und der Boden sind an der Rückwand montiert, im rechten Winkel und auf den richtigen Seiten. Wir gehen in den Flur, um die restlichen Teile zu holen. Mit einem betonten Blick in Keanus Richtung kicke ich seine Schuhe zur Seite, die er wie immer mittendrin hat liegen lassen, und greife nach der untersten Schublade, er nimmt sich die anderen beiden.
   Keanu grinst. »Mam, mich hat Oma Rosemis Putzfimmel tierisch genervt, das weißt du. Aber im Keller war definitiv kein Platz, um die Möbel abzustellen. Deshalb haben wir die Kommode auseinandergelegt, genau wie den großen Schrank.«
   Das Klingeln des Telefons bewahrt mich davor, eine passende Antwort zu suchen. Keanu geht zurück ins Gästezimmer, um die Kommode fertig zu bauen, wofür ich ihm wirklich dankbar bin.
   »Weiler?«, melde ich mich.
   »Lina, bist du das, mein Schatz?« Zunächst erkenne ich die Stimme gar nicht, die Frau scheint schwer an den Polypen erkrankt zu sein. Erst während sie die Nase hochzieht, blitzt die Erkenntnis auf, denn dieses Geräusch ist mir aus meiner frühesten Kindheit vertraut.
   »Nein, Moni, hier ist Sanne.«
   »Ach, du bist es, umso besser.« Meine Schwester hört sich grauenvoll an. Sofort zieht sich mein Magen zusammen. Da ist was passiert. Mama? Ihr kleiner Sohn Tim? Gunnar, ihr Mann?
    »Was ist denn, Moni, geht es dir nicht gut?«, frage ich gepresst.
   Sie heult los, und ich verstehe nur einzelne Worte: »Furchtbar … so schlimm … Tim … Gunnar, der … nur tun?« Sie hechelt beim Heulen immer noch wie früher, so wie man es von kleinen Kindern kennt. Ich kann mir auf das, was sie zusammenstammelt, keinen Reim machen. Wie bei Lina, muss ich sie dazu bringen, ruhig zu sprechen.
   »Moni, jetzt noch mal von vorn, ich habe dich nicht verstanden. Versuch, gleichmäßig zu atmen.« Das Hecheln hört auf, ihr Atem beruhigt sich.
   »So, probiers noch mal, Schwesterherz. Alles wird gut.«
   »Gunnar, der Arsch!«
   »Was ist passiert? Hat er dich etwa sitzen lassen?«
   »Quatsch, das doch nicht! Aber er ist schon wieder weg, ich weiß nicht wo, Tim tanzt mir auf der Nase herum, und der Kaffeeautomat hat den Geist aufgegeben!«
   Ich spüre, wie die Übelkeit, die ihr erster Ausbruch in mir auslöste, nachlässt. »Moni? Was ist das mit Gunnar und dir? Was heißt, er ist weg?«
   »Na, der muss jetzt immer öfter auf diese beschissenen Lehrgänge, Managementseminare oder so’n Scheiß.«
   Ich zucke. Meine kleine Schwester hat früher schon mit diesen unflätigen Wörtern um sich geworfen, wenn sie sich in ihren Nesthäkchenärger hineinsteigerte. Insbesondere, wenn sie ihrer Ansicht nach zu wenig Aufmerksamkeit bekam. Dass ich nicht lache! Zu wenig Aufmerksamkeit … Ich als Sandwichkind hatte es viel schwerer als sie, bloß glaubt mir das keiner.
   »Moni, geht es vielleicht zur Abwechslung ohne Fäkalsprache?« Innerlich zucke ich schon wieder zusammen, dieses Mal wegen meiner Ausdrucksweise. Ich höre meinen Schwiegervater heraus. O Graus, ich werde meinen Mund mit Seife auswaschen müssen. Reden wie der Deutschlehrer a. D.: Das geht gar nicht!
   »‘Tschuldige«, murmelt Moni. »Ich bin ein bisschen durch den Wind. Tim probt den Zwergenaufstand, weil er unbedingt jetzt schon in den Kindergarten will, dabei wird er im Oktober erst drei.«
   »Na ja, das ist in wenigen Wochen, Moni. Hast du mal nachgefragt, ob er früher kommen kann?«
   »Gunnar hat das getan«, faucht sie. »Der Kleine hat das mitgekriegt. Jetzt muss ich mir jeden Morgen das Geschrei anhören.« Sie schraubt ihre Tonlage in höchste Höhen, um ihren kleinen Jungen nachzuäffen. »Mami, is will in den Tinderdarten. Is will, is will, is will!«
   Ich schließe die Lider.
   »Wer ist denn dran?« Lina kommt die Treppe herunter, setzt sich neben mich und plappert auf mich ein, während ich den Hörer mitsamt meinem Kopf höher hebe, damit ich aus der Reichweite ihrer Arme komme. Keanu lehnt im Türrahmen zum Gästezimmer und beobachtet interessiert die Szenerie.
   »Moni«, sage ich zu Lina und meiner Schwester gleichzeitig, »die meisten Mütter freuen sich, wenn ihr Kind in den Kindergarten kommt. Du gewinnst Zeit, in der du etwas Sinnvolles machen kannst.«
   »Ach, hör auf. Das sagt jeder. Darauf pfeife ich. Tim ist mein Baby, und ich will nicht, dass er in den Kindergarten zu all den frechen Gören geht!«
   Typisch Moni, sie weiß mal wieder nicht, was sie will. Wenn sie sonst keine Probleme hat …
   »Außerdem habe ich Angst im Haus, so allein.«
   »Was?« Ich lache.
   »Lach nicht. Du weißt doch, was für ein uralter Kasten das ist, in dem wir wohnen. Hast du dir jemals unseren Keller angeschaut? Gunnar, der … Zuerst zwingt er mich, in diese alte Hütte zu ziehen, und dann lässt er mich allein!«
   Die »alte Hütte« ist ein stabiles Bauernhaus, wie man sie in vielen saarländischen Orten findet. Natürlich ist das Haus ein wenig rustikal, aber auf eine bezaubernde, geschmackvoll hergerichtete Art. Mein Schwager Gunnar hat es komplett modernisieren lassen und mit den luxuriösesten Feinheiten ausgestattet, wie Fußbodenheizung, Sauna und Pool. Außerdem ist es nach neuestem Stand der Technik isoliert, alle Fenster sind erneuert, das Dach neu gedeckt und mit einer Solaranlage versehen worden. Kurz und gut, von der alten Hütte können die meisten nur träumen und kaum jemand könnte sie sich leisten. Hier, im Stuttgarter Raum, hat Gunnar nicht bleiben wollen oder können, wegen seiner Arbeit in dem kleinen Bundesland an der französischen Grenze. Wenn ich noch daran denke, wie schwer sich Moni die Entscheidung damals gemacht hat … Die große Liebe heiraten und dafür in das kleine, hinterwäldlerische Bundesland ziehen, von dem man nichts wusste, außer Kohle und Stahl oder im geliebten Ländle bleiben, in oder um Stuttgart herum, und alles an Einkaufsmöglichkeiten finden, was das Herz begehrte? Natürlich fiel ihre Entscheidung zugunsten von Gunnar, und nachdem wir alle die beiden in ihrem Heim besucht hatten, waren auch wir davon überzeugt, dass sie in dem beschaulichen Land sehr wohl glücklich werden konnte. Die Saarländer reden Deutsch, nicht Französisch, an Shoppingmöglichkeiten ist alles vorhanden, die Region ähnelt ein wenig unserem Ländle, und Essen ist dem Saarländer offenbar ein Lebenselixier. Ich habe nirgendwo sonst so gut gegessen wie in Monis neuer Wahlheimat. Bisher hat sie sich nie beklagt, deshalb falle ich aus allen Wolken bei ihren Worten.
   »Schwesterlein, dein Gunnar ist kein Arsch, und das weißt du. Und dass er öfter mal beruflich unterwegs sein muss, war von Anfang an klar. Du bist selbst schon viel gereist für und mit deinem Chef.«
   »Das ist was ganz anderes. Damals hatten wir ja noch kein Kind!«
   »Ach? Heißt das, wenn dein Chef nach deinem Wiedereinstieg in den Job seine wichtigste Sekretärin bittet, für ihn in Deutschland herumzureisen, schlägst du ihm das aus?«
   Sie zieht schniefend die Nase hoch. »Natürlich nicht.« Ihre Stimme nimmt einen träumerischen Klang an. »Waren das noch Zeiten! Überhaupt weiß ich gar nicht, wie ich das auf die Reihe kriegen soll. Gunnar hat schon gesagt, er könne seine Termine kaum mit meinen abstimmen, er muss einfach flexibel bleiben.«
   »Das wusstest du vorher.«
   Sie seufzt. »Sag mal, ihr habt doch jetzt das Gästezimmer renoviert und oben ein Atelier eingerichtet … Da hast du bestimmt im Notfall mal eine Anlaufstelle für mich und Tim, oder?«
   Ich halte erschrocken die Luft an, doch Tim rettet mich unerwartet. Im Hintergrund höre ich seine helle Kinderstimme. »Tim! Hör sofort auf! Lass das! … Sanne, ich muss Schluss machen, Tim hat aus Versehen die Saftkaraffe umgekippt, die Küche ist überflutet …« In meinen Ohren klingelt Monis Geschrei schmerzhaft. Klick, hat sie aufgelegt.
   Keanu ist neben mich getreten. Er muss ihr lautes Kreischen gehört haben. Außerdem hat er wohl mitgekriegt, dass ich bei Monis Frage die Farbe gewechselt habe.
   »Was ist denn mit meiner Tante los?«
   Ich verwuschle nachdenklich meine Haare im Nacken. Sicher reagiere ich mal wieder über, alles ist gut. »Ich weiß auch nicht. Sie klingt ziemlich ungechillt.«
   Lina greift nach meiner Hand und knetet sie mit ihren kleinen Fingern. Sie liebt Moni, aber bei Tim ist sie skeptisch. Das mag daran liegen, dass sie immer die Schuld zugeschoben bekommt, wenn der kleine Sonnenschein etwas anstellt. Moni hält ihren Sohn für das bravste Kind der Welt und alle anderen Kinder für Gören. »Was hat sie denn gesagt, Mami? Kommt sie uns bald besuchen?«
   »Gott behüte. Ich bin froh, wenn wir ein paar Wochen Ruhe haben!«
   Keanu nickt wie ein weiser, alter Mann. »Ich auch. Warum ist Moni denn so ungechillt?«
   »Gunnar ist auf Geschäftsreise, und Tim will unbedingt schon ein paar Wochen eher in den Kindergarten.«
   Lina verkrümelt sich bereits wieder in ihr Zimmer. Keanu zieht die Brauen hoch. »Ist also alles ganz normal, oder?«
   Ich lache. »Schon. Aber der Schweizer Kaffeevollautomat ist auch noch kaputt.«
   »Ach so! Nee, dann ist klar.«
   Ich starre meinen Sohn an. Manchmal ist er mir unheimlich.
   »Ey, wenn sie ihren Kaffee nicht kriegt, verstehe ich alles.« Er grinst dämonisch. »Schließlich ist sie deine Schwester.«
   Ich tue so, als ob ich dem langen Lulatsch eine Backpfeife geben wolle, und kann mir ein Grinsen dabei nicht verkneifen. »Na komm, machen wir den Rest fertig.«
   Er verschränkt die Arme. »Nee du, für heute habe ich Feierabend. Für den großen Schrank brauche ich Paps. Außerdem will ich noch weggehen.«
   Ich sehe auf die Uhr. »Du gehst weg? Wir haben noch gar nicht zu Mittag gegessen. Triffst du dich mit jemandem?«
   Erstaunlicherweise färben sich Keanus Wangen tomatenrot. Aha! Da ist was im Busch, und ich habe es noch nicht mitgekriegt.
   »Äh, ja, ich treffe mich mit ein paar Kumpels.«
   »Dann brauchst du doch nicht so rot anzulaufen …«
   Die Farbe seiner Wangen vertieft sich womöglich noch. »Äh, nein, schon gut. Sag mal, hat die Rektorin sich schon gemeldet?«
   Keanu hat vor Ende des letzten Schuljahres einen Antrag gestellt, in die Parallelklasse zu wechseln. Die Direktorin konnte ihm so schnell nicht sagen, ob das möglich ist, und versprach, weil er bei ihr einen Stein im Brett hat, sie wolle sich noch in den Ferien melden. Wahrscheinlich wird das kein Problem sein, aber man kann sich in Schulangelegenheiten nie wirklich sicher sein. Keanu hat jedenfalls meine Gedanken von dem Treffen mit den Kumpels erfolgreich abgelenkt.
   »Nein, ich habe noch nichts gehört. Sag mal, warum willst du unbedingt aus deiner alten Klasse raus? Im Grunde hast du dich doch mit allen gut verstanden.«
   »Nach der Internetsache fühle ich mich einfach nicht mehr wohl dort. Hoffentlich meldet die Schule sich bald.«
   Die Internetsache passierte vor einigen Wochen, gerade, als in unserem Hause das Schwiegerelternchaos am größten war. Keanu war in eine Cybermobbinggeschichte verwickelt worden und galt als der Urheber der ganzen hässlichen Angelegenheit. Zum Glück hatten wir alles aufklären können. So richtig nachvollziehen kann ich deshalb seinen Wunsch nach einem Klassenwechsel nicht.
   »Ich bin weg, Mam.«
   Er verschwindet nach oben ins Bad. Okay, also essen Lina und ich etwas später allein. Auch nicht schlecht.

Wir haben uns gerade gesetzt und die ersten Happen im Mund, da klingelt das Telefon wieder.
   Lina springt auf und meldet sich mit »Hallo!«. Sie lauscht. »Wir essen gerade. Weiß nich, hab nich auf die Uhr geschaut. Ist das wichtig? Ach so. Nudeln mit Tomatensoße. Ja, mach ich, wenn ich mit Essen fertig bin.«
   Ich habe längst den Kopf in die Hand gestützt, weil ich weiß, wer sich da nach unseren Essgewohnheiten erkundigt: meine Mutter. Sie hat einen inneren Radar dafür, wann wir essen. Egal, wie unmöglich die Zeit ist, zu der wir uns am Tisch niederlassen, an drei von fünf Tagen ruft sie ausgerechnet dann an und spart nie mit ihrer Ansicht zur Uhrzeit. Meistens ruft sie mich an den Apparat …
   »Mama, die Oma will mit dir reden«, sagt Lina, obwohl sie wissen sollte, wie sehr ich es hasse, wenn wir beim Essen gestört werden.
   Seufzend nehme ich den Hörer. Ich verabscheue kalte Nudeln. »Hallo, Sanne hier«, sage ich. Wenigstens soll sie nicht denken, ich bin innerlich zu diesem Gespräch bereit, deshalb benutze ich die Kurzform meines Namens, die sie noch nie hören mochte.
   »Hallo, Susanne, Lina sagt, ihr seid gerade beim Essen …«
   »Ja«, schmatze ich, damit sie merkt, dass ich gern weiter essen will.
   »Wie oft in der Woche kochst du eigentlich Nudeln, Kind?«
   »Weiß nicht, so zwei bis drei Mal am Tag.« Ich feixe.
   Für eine Sekunde schweigt meine Mutter, bevor sie zurück feuert. »Du weißt aber schon, wie wichtig ein fester Tagesrhythmus für Kinder ist?«
   »Ich weiß, um zwölf wird gegessen. Bei uns aber nicht, Mutsch, und daran wirst du nichts mehr ändern. Laut Kinderarzt ist Lina kerngesund, Keanu fehlt es auch an nichts, also erspar mir in Zukunft einfach deine Ansichten zur Essensfrage, okay?« Warum ich so überzogen reagiere, weiß ich nicht genau. Vielleicht liegt es am Hunger. Handwerkliches Arbeiten macht mich immer sehr hungrig.
   »Na gut …«
   Nanu? Sie lenkt so schnell ein?
   »Du wirst sehen, was du davon hast.«
   Ich verstehe nicht, warum sich meine Mutter am Telefon immer als eine solche Zicke aufführt. Von Angesicht zu Angesicht macht sie das eigentlich nicht. Nun gut, nicht so oft. Vor allem, seit sie mit Manfred zusammenlebt, hat sie sich geändert. Da dämmert es mir: Vielleicht steht sie unter Druck. Meistens gibt es eine tiefere Ursache, wenn sie die Oberzicke herauskehrt. »Weshalb rufst du denn an, Mutsch?«
   »Es ist nicht so wichtig. Vielleicht kannst du nachher zurückrufen? Bis später.« Sie legt auf.
   Nachdenklich esse ich meine lauwarmen Nudeln auf.
   Lina beobachtet mich. »Mami, geht es der Oma gut?«
   Sofort klopft mein Herz schneller. Hat sie ebenfalls etwas Eigenartiges gespürt? »Warum fragst du, Schatz?«
   »Die Oma hat so eine traurige Stimme gehabt.«
   Tatsächlich, das hatte sie. Ich schlinge den Rest hinunter und räume mit meiner Tochter gemeinsam die Spülmaschine ein.
   »Ich rufe sie gleich zurück, einverstanden?«
   Einen Moment später halte ich das Telefon in der Hand und wähle Mutters Nummer. Lina steht neben mir und lauscht auf das Freizeichen. Ihr zuliebe habe ich das Telefon auf Freisprechen geschaltet.
   »Schellenberg?« Nein, in der Stimme liegt nichts Ungewöhnliches.
   »Hallo, ich bins. Wir sind fertig mit Essen. Weshalb hattest du denn angerufen?«
   »Vier Uhr nachmittags ist wirklich eine sehr eigene Zeit, Liebes … Ich hatte nur so angerufen, nichts Wichtiges.«
   »Warum sollte ich dich denn dann zurückrufen?« Versteh einer die Generation Ü-60!
   »Solltest du gar nicht.« Ihre Stimme klingt unschuldig-erstaunt. »Aber da wir gerade miteinander reden. Wie weit seid ihr denn mit den Zimmern?«
   »Morgen darf ich mit Mami das Atelier anmalen«, kräht Lina dazwischen.
   »Ach, seid ihr mit dem Gästezimmer fertig?«
   »Ja, nur der große Schrank fehlt noch, den packt Mami nicht. Keanu hat gesagt, sie ist ein Zwerg.«
   Mama lacht ihr ‚Ich-liebe-meine-Enkeltochter‘-Lachen, ich stimme ein.
   »Na, wo er recht hat, hat er recht.« Und das von einer Frau, die meine einsfünfundsechzig noch unterbietet!
   »Musst du gerade sagen! Dir konnte ich doch mit dreizehn schon über den Kopf spucken, trotz hochgetürmter Haare.«
   »Tja«, kontert sie fröhlich, »das kann dein Sohn bei dir auch. Und er ist nicht mal dreizehn.«
   »Und sogar, wenn Mami einen Hut aufhat«, hakt Lina wieder ein.
   Da sind die beiden sich wieder mal einig. Sie gackern wie die Hühner.
   »Jedenfalls finde ich es gut, dass ihr das Zimmer jetzt als reines Gästezimmer benutzen wollt. Es ist ein beruhigendes Gefühl, im Notfall bei euch eine Anlaufstelle zu wissen.«
   In meinem Kopf meldet sich die neuronale Verbindung von heute Morgen wieder. Hat der Deutschlehrer a. D. nicht etwas ganz Ähnliches gesagt? »Wie meinst du das? Denkst du, dass du eine Anlaufstelle brauchst?« Meine Mutter wohnt nur eine Straßenecke weiter.
   »Ach, das habe ich nur so dahingesagt, Kind. Susanne, soll ich deinen Vater vorbeischicken? Er kann mit dem großen Schrank helfen.«
   Wie leicht ihr »dein Vater« über die Lippen kommt. In mir zuckt immer noch etwas, wenn sie das so sagt. Zwar mag ich Manfred wirklich gern, – ich hätte mir keinen liebevolleren Mann als Vater wünschen können – aber mein Vertretungspaps, mit dem ich aufgewachsen bin im Glauben, er sei mein leiblicher Vater, genau wie der meiner Schwestern, hat mich mindestens so sehr geliebt wie meine Mutter, und ich ihn. Deshalb tue ich mich trotz aller Zuneigung immer noch schwer, die Tatsache zu akzeptieren, dass sie mich mit einer solch gewaltigen Lebenslüge haben aufwachsen lassen. Ich seufze.
   »Keanu ist jetzt nicht da, er trifft sich mit Kumpels, und mit mir allein wird es nicht gehen. Vielleicht kommt ihr heute Abend vorbei, dann ist Axel von der Arbeit zurück.«
   Lina hüpft sofort vor Freude auf und ab.
   »Okay, gern. Ich bringe einen Salat mit.«
   So hatte ich das nicht gemeint, aber was solls? Für eine Sekunde blitzt in meinem Kopf die Vision meines Maltischs auf, der darauf wartet, im Atelier endlich wieder aufgebaut und seiner wahren Bestimmung zugeführt zu werden. Die Deadline für einen Illustrationsauftrag nähert sich langsam, aber stetig. In dieser Umbauzeit konnte ich mich nicht dazu aufraffen, mit den Zeichnungen zu beginnen. Warum ich ausgerechnet jetzt daran denke, weiß ich zwar nicht, aber soeben habe ich die Hammeridee für das erste Bild. Ein Haus voller Umzugskisten, dazwischen heilloses Chaos an Gegenständen, und die ganze Familie wimmelt darin herum.
   »Gut, ich gehe gleich das Fleisch kaufen. Freue mich, Mutsch«, beende ich hastig das Gespräch.
   Wie immer, wenn die Muse mich mit einer neuen Idee beglückt, werden in meinem Körper Endorphine freigesetzt. Ich spüre das innere Kribbeln. Nun werde ich die Stunden zählen, bis ich endlich wieder am Maltisch sitzen werde. Der Küchentisch ist einfach kein guter Ersatz, und Keanu wird überglücklich sein, wenn ich nicht mehr seinen PC benutze, um meine elektronische Post zu erledigen. Die frische Energie der neuen Idee pumpt durch meinen Körper. Gerd Fröhlich, mein Verleger, wird begeistert sein, ganz sicher. Lina lässt sich von meiner Freude anstecken, und gemeinsam erledigen wir den Einkauf.

Trotz meiner Freude schleichen sich immer wieder seltsame Gedanken in meinen Kopf. Auch am frühen Abend, beim Vorbereiten eines Kartoffelsalats – wenn Mama einen Salat bringt, meint sie damit Rohkost aus dem Garten, egal welcher Art – frage ich mich zum wiederholten Male, wieso heute gleich drei Leute von einer »Anlaufstelle« in unserem Gästezimmer gesprochen haben. Ich bin überglücklich, dass wir unser Haus wieder ganz für uns haben und ich tun und lassen kann, was mir gefällt. Vor allem für mein Zeichnen ist es einfach besser, wenn ich völlig allein arbeiten kann. Ich lasse meine Gedanken laufen und komme doch immer wieder an diese eine, unbewusste Stelle in meinem Hirn zurück, die mir einen zarten, fast nicht wahrnehmbaren Warnton zupiept. War es wirklich der pure Zufall, der Schwipa, Moni und Mama mein Gästezimmer mit demselben Wort bezeichnen ließ? Oder steckt da ein tieferer Sinn dahinter? Vielleicht auch kein Sinn, sondern ein Jemand … Axel! Er war es, der hinter meinem Rücken die Sache mit dem Schwiegerelternaufenthalt in unserem Haus eingefädelt hatte. Ihm ist zuzutrauen, dass er längst haufenweise Einladungen in unser Gästezimmer ausgesprochen hat. Ich fülle den Salat in meine Lieblingsschüssel, die mit dem Sprung, die so viel über unsere Familie zu erzählen wüsste, wenn sie sprechen könnte, und beschließe, ihn heute Abend auf dieses Thema anzusprechen.

Wir sitzen gemütlich auf der Terrasse und genießen die warmen Sonnenstrahlen. Der Altweibersommer sendet seine Boten in Form von langen Spinnweben, die bis zu unserem Tisch geweht werden, wo Lina sie mit Todesverachtung kappt. Wir genießen ein herrlich entspanntes Essen. Axel und Manfred verstehen sich so super, als wären sie schon seit langen Jahren befreundet. Für Axel hat es natürlich auch eine Umstellung bedeutet, von heute auf morgen einen neuen, lebendigen Schwiegervater vorgesetzt zu bekommen. Da Manfred sich sofort mit viel Großmut um Keanus Schulärger und um meine eigenen Schwierigkeiten in Sachen elektronischer Neuausstattung gekümmert hat, fiel es ihm unerwartet leicht, ihn in unserer Familie willkommen zu heißen. Am heutigen Abend ist meine Mutter mal wieder die Einzige, die Grund zum Nörgeln findet. Während sie sich Kartoffelsalat aus meiner Schüssel nimmt, zieht sie die Brauen hoch.
   »Susanne, diese Schüssel mit dem Olivendesign passt nicht zu dem Geschirr, das du heute benutzt.«
   Pah, Oliven passen zu allem, ist meine Ansicht, also werfe ich ihr lediglich einen finsteren Blick zu und äußere mich nicht weiter. Sie schiebt sich eine Gabel Kartoffeln in den Mund und kaut darauf herum.
   »Die sind nicht ganz durch. Kennst du denn nicht meinen Kartoffeltrick?«
   »Ich habe selbstverständlich mit der Gabel hineingepikt, um den Gar-Grad zu überprüfen. Die Kartoffeln sind durch, vielleicht ist eine einzige darunter, die noch ein wenig fest ist. Das kann bei den neuen Kartoffeln schon mal vorkommen.«
   Sie kräuselt die Stirn. »Und die erwische ich natürlich, wie immer … Manfred, sind die Kartoffeln wirklich weich?«
   Manfred hat sich schon zum zweiten Mal von meinem Salat aufgeladen. Ich bereite ihn nach dem Rezept meiner Mutter, und er mag ihn sehr. Nur sie findet immer was zu meckern.
   »Schie schind gantsch prima.« Er kaut und grinst.
   »Na, dann«, sagt Mutter mit gespitzten Lippen und spießt ein Blatt ihres köstlichen Kopfsalats auf.
   Eine halbe Stunde später beneide ich die Männer darum, im Gästezimmer den Schrank aufbauen zu dürfen, während ich mir anhören muss, wie meine Mutter am besten ihr Geschirr sauber bekommt und welches Spülmittel sie benutzt. Selbst beim Einräumen der Spülmaschine besteht sie darauf, ich müsse eine andere Ordnung einführen. Heute Abend geht sie mir wirklich auf den Geist. Sie steht Rosemi in nichts mehr nach. Ich nutze die nächstbeste Gelegenheit, um zu den Jungs zu flüchten und frage, ob sie einen Kaffee möchten.
   »Au ja«, sagt Manfred, während er am Schrank fuhrwerkt. Er steht zwischen Keanu und Axel und hält die Zwei-Meter-Wand fest. Keanu – er ist der Größte der drei – dreht dort oben eine Schraube fest, Axel in mittlerer Höhe.
   »Machst du mir auch einen, Liebes? Bitte schwarz.«
   »Und für mich einen, Mam!«
   Ich war schon auf dem Weg nach draußen. »Du magst einen Kaffee?« Was ist denn in meinen Sohn gefahren? Bisher hat er nichts als abfällige Bemerkungen für das schwarze Gebräu übrig gehabt.
   »Ja, einen koffeinfreien.«
   Axel und Manfred lachen kurz auf. Schnaufend schieben sie den Schrank an die Wand. Das Gerüst steht, es fehlen noch die Trennwände und die Einlegeböden. Und natürlich die Türen. Ich sehe mich im Zimmer um. Schön ist es geworden, wahrhaftig. Über dem kleinen Retro-Waschtisch hängt bereits der Spiegel mit dem schmiedeeisernen Jugendstilrahmen. Ich seufze. Kaum zu glauben, heute wird das Gästezimmer fertig! In meiner Brust kribbelt es wieder. Morgen kann ich das Atelier streichen und in wenigen Tagen werde ich es endlich benutzen können.
   »Wolltest du uns den Kaffee heute Abend noch bringen oder lieber erst zum Frühstück?« Axel zwinkert mir zu. »Du freust dich, habe ich recht?«
   »Ja«, schwärme ich, »es ist wirklich schön geworden.«
   Plötzlich zieht mir ein Duft von Kaffee in die Nase, ich eile durch den Flur zur Küche.
   »Ich habe einfach eine Kanne aufgesetzt. Bestimmt haben die Jungs Kaffeedurst, und ich freue mich so auf einen richtigen Kaffee.«
   Meine Güte, Mutsch hat den Handfilter herausgekramt und einen klassischen Bohnenkaffee gekocht. Das Pulver muss noch von Rosemi übrig gewesen sein. Ich stöhne innerlich. Keiner von uns anderen mag diesen Kaffee, aber Mutter will das einfach nicht akzeptieren. Und das, obwohl sie sich zu Hause inzwischen an den Sensibla-Pad-Kaffee gewöhnt hat …
   Na ja, die Männer zeigen sich großzügig, und mit warmer geschäumter Milch schmeckt eigentlich jeder Kaffee. Es ist spät geworden, als Manfred und Mutter sich verabschieden. Lina ist längst ins Bett gekrochen und eingeschlafen, obwohl sie sich lange standhaft dagegen gewehrt hat. Keanu verkrümelt sich ebenfalls mit einem Gähnen, und Axel hilft mir noch, die Tassen wegzuräumen. Erst jetzt fällt mir das Wort »Anlaufstation« wieder ein, das ich heute mehrfach gehört habe.
   »Sag mal, hast du unsere Verwandten allesamt eingeladen, um das Gästezimmer einzuweihen, oder so?«
   Er sieht mich fragend an. »Nö, wieso?«
   »Ganz sicher? Auch nicht aus Versehen?«
   Er grinst. »Auch nicht aus Versehen. Warum fragst du?«
   »Ach … weil mich heute schon drei Leute angerufen haben und meinten, es wäre schön, so eine Anlaufstation bei uns zu haben.« Lauernd sehe ich ihm zu, wie er die Maschine zuklappt, dann einschaltet und wieder aufsteht. Er dreht sich zu mir, legt mir den Arm um die Schulter, und führt mich wie früher in den Flur und die Treppe hinauf.
   »Sei froh, wenn sie gern zu uns kommen, das ist ein gutes Zeichen, Liebes.«
   Wir gehen gemeinsam ins Bad und putzen an den beiden Waschbecken unsere Zähne. »Klar, aber isch bin froh, wenn isch jetscht erscht mal Ruhe habe.« Ich spucke die Zahnpasta aus und spüle nach.
   »Die wirst du haben, nur keine Angst. Warum sollte irgendjemand jetzt zu Besuch kommen? Die Ferien gehen zu Ende, und meine Eltern waren ja erst da.«
   Im Schlafzimmer ziehen wir uns um und steigen ins Bett. Ein wenig beruhigt rutsche ich zu Axel und kuschle mich an ihn. Er streicht über meinen Schopf. »Alles gut, Sanne, mach dir keine Sorgen.«
   Ich schmiege mich noch enger an ihn. Hm, wie gut mein Mann riecht! Ich verteile zarte Küsschen auf seinen Hals, während er mit den Fingerspitzen meinen Oberarm streichelt. »Dann ist es gut.«
   Er küsst meine Stirn. »Die Feier haben wir ratz-fatz organisiert, du wirst sehen.«
   Ich schnurre wie ein Kätzchen. Ja, die Feier … Welche Feier? Der Alarm in meinem Kopf schrillt los. Ich schrecke hoch und starre Axel an. Er lächelt noch voller Vorfreude, allerdings bemerkt er bei meinem Gesichtsausdruck wohl, dass ich meine Freude gerade verloren habe.
   »Was ist denn los, Liebes?«
   »Welche Feier meinst du? Die Einschulungsfeier?« An Keanus erstem Schultag haben wir die Großeltern eingeladen, um den Tag würdig zu begehen, und für Lina wollen wir das natürlich genauso machen. Ich lehne mich wieder an Axels breite Schulter. Natürlich meint er die Einschulungsfeier. Die ist kein großer Akt, kaum der Rede wert.
   Jetzt ist es allerdings an ihm, mich ein Stück wegzuschieben, um in meine Augen sehen zu können. »Nein, Liebes, ich meine die Geburtstagsfeier.«
   »Keanus? Er will kein großes Fest.«
   Axel schüttelt den Kopf. »Nein, ich meine natürlich die meiner Mutter.«
   »Die betrifft uns doch nur peripher. Natürlich werde ich ihr bei allem helfen, aber das große Tohuwabohu wird Gott sei Dank in deren Haus stattfinden.«
   »Ähm …«
   Endlich schwant mir, wie zuverlässig mein innerer Alarm funktioniert.
   »Spucks aus.«
   »Ich habe meiner Mutter angeboten, ihren Siebzigsten bei uns zu feiern.«
   »Du hast was?«, quieke ich. Wir hatten Rosemi bereits ein vorgezogenes Geburtsgeschenk gemacht, indem sie und Matthias während ihres Hausumbaus drei lange Wochen bei uns wohnen durften. Zumindest hatte Axel mir das Ganze so verkauft.
   Er setzt sich mit dem Rücken gegen das Kopfteil des Bettes, ich rutsche ebenfalls nach oben.
   »Sieh mal, Schatz …«
   Wenn er schon mit »Sieh mal« anfängt und auch noch »Schatz« anhängt, in diesem Ton … Ich könnte speien!
   »Meine Mutter ist einfach überfordert mit diesem riesigen Geburtstag.«
   »Das glaubst du ja selbst nicht«, fauche ich. Rosemi liebt Feierlichkeiten. Wenn sie so etwas vorbereiten kann, ist sie in ihrem Element. Je mehr Menschen, desto besser.
   »Dann ist es eben mein alter Herr.«
   Lächerlich! Matthias bezeichnet sich gern als Organisationsguru. Und der soll sich durch eine runde Geburtstagsfeier überfordert fühlen? Niemals!
   »Axel, du spinnst! Haben deine Eltern diesen Vorschlag gemacht?«
   »N-nein … Aber da meine Mutter hier im Haus alles so gründlich aufgeräumt und geputzt hat, fand ich, dass wir ihr das irgendwie schuldig sind. Sie hat sich zuerst geziert, also habe ich darauf bestanden.«
   Er hat darauf bestanden!
   Axel will mich an sich ziehen, ich lasse es nicht zu.
   »Sanne, wir haben genug Platz. Nun stell dich nicht quer. Schließlich musst du das nicht allein machen.«
   Ich schnaube und drehe mich ohne ein weiteres Wort auf die Seite. Schlaf finde ich so schnell nicht, während von Axels Seite unerhörterweise schon bald ein leises, zufriedenes Schnarchen erklingt.
   Frechheit!
   Ich wälze mich von einer Seite auf die andere und halte es schließlich nicht mehr aus. Meine Gedanken drehen sich wie ein Karussell, und aus leidvoller Erfahrung weiß ich bestens, wie aussichtslos es ist, auf diese Weise Schlaf zu finden. Axel wiederum würde es stören, wenn ich jetzt das Licht einschalte, um zu lesen, und das will ich nicht. Er muss früh aufstehen.
   Ich schnappe mir meinen funkelnagelneuen Laptop und schleiche damit in die Küche. Einen Internetanschluss habe ich dank meiner Abneigung gegen Elektrosmog hier zwar nicht, aber das macht nichts. Meine Homepage kann ich einfach vom Rechner aus öffnen und bearbeiten. Hochladen kann ich die Änderungen morgen immer noch. Dummerweise habe ich mir eine Homepage ausgesucht, bei der ich noch fast alles von Hand machen muss. Das heißt, meine beste Freundin Claudia musste mir erst mal Stylesheets erstellen – sie kennt sich damit aus. Ich musste mir mühsam ein paar rudimentäre Kenntnisse in HTML und CSS aneignen, um den Mut zu finden, die Homepage selbst mit neuen Inhalten zu füllen. Eigentlich hat sie die ganzen Seiten aufgebaut und mir erklärt, wie ich damit zu verfahren habe. Ich fuhrwerke deshalb meist nur in den HTML-Dateien herum, in die ich die Texte und Bilder einfüge. Man muss dabei höllisch aufpassen, dass man nicht irgendwo Anführungszeichen oder einen Slash vergisst. Zum Glück habe ich im Laufe der Zeit gelernt, damit umzugehen. Warum ich mich ausgerechnet jetzt, mitten in der Nacht, hinsetze und eine ganz neue Seite für meine Homepage bastle? Mir ist in all dem Gedankengewusel nach Axels Offenbarung über Schwimas Geburtstag ein Blitz durch den Kopf geschossen, und da er sich ähnlich elektrisierend angefühlt hat wie meine neue Illustrations-Idee, sehe ich keinen Grund, mit der Umsetzung zu warten. Zum Malen bevorzuge ich Tageslicht. Also warum nicht ein wenig experimentieren?
   Es gelingt mir, eine neue Seite zu erstellen, für die ich eine meiner älteren Zeichnungen als Titelbild benutze. Sie zeigt ein aufgeschlagenes Notizbuch und eine Schreibfeder. Ich überprüfe das Ergebnis. Ja, das gefällt mir. Das Ganze hat mich locker zwei Stunden gekostet, wie ich mit einem Blick auf die Uhr erkenne. Trotzdem kann ich es dabei nicht belassen. Jetzt habe ich mir diese Blogseite gebastelt und soll aufhören?
   Wieder durchströmt mich das Musenkribbeln, und mit fliegenden Fingern beginne ich, meinen Text zu schreiben, jeden Absatz in eine neue Klammer.
   Liebe BesucherInnen meiner Homepage, dies ist neu: Ab sofort führe ich einen Blog, in dem ich für Sie Gedanken, Ideen oder kleine Anekdoten aus meinem Leben als Illustratorin, Schwiegertochter und »working mom« festhalten werde. Sie sind herzlich eingeladen, gelegentlich vorbeizuklicken.
   So, wie fange ich an? Was will ich denn eigentlich? Vorhin, als ich neben Axel schlaflos im Bett lag, schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass ich irgendwie den Druck ablassen muss, der sich in mir so oft durch die Konstellationen in meiner Familie aufbaut. Ich liebe sie alle – bei diesem Gedanken muss ich grinsen – aber manchmal fühle ich mich einfach wie der Depp vom Dienst. Schon will ich aufschreiben, was mein Göttergatte jetzt wieder angestellt hat, da zögere ich. Vielleicht ist das alles viel zu privat und viel zu aktuell. Ich stütze mein Kinn auf. Schreiben muss ich jetzt irgendetwas. Meine Erinnerung geht ein paar Wochen zurück, zu dem Tag, an dem das Schwiegerelternchaos seinen Anfang nahm. Ich wachte morgens auf … Nein, ich wachte nicht auf, ich wurde geweckt. Ganz klar, jetzt weiß ich, wie ich anfangen werde. Ich beschließe allerdings, meinen Protagonisten andere Namen zu geben.
   »Mama-a?« Kiras Zeigefinger malt sachte eine Linie von meiner Augenbraue bis zum Mundwinkel.
   »Hm?« Verschlafen öffne ich ein Auge und sehe das Gesicht meiner sechsjährigen Tochter in Übergröße vor mir auf dem Kopfkissen. Ich lächle und ziehe sie an mich. Sie fühlt sich warm und weich an und duftet so gut.
   »Wer ist eigentlich älter – du oder die Oma?«
   Ich muss schmunzeln. Fast ohne nachzudenken, fliegen meine Finger über die Tasten, und ich schreibe einen langen Absatz. Zufrieden lese ich ihn anschließend noch mal durch und muss ein paar Mal laut lachen. Das könnte den Leuten da draußen gefallen. Ich denke mir noch eine Überschrift zu dem eben Geschriebenen aus, speichere das Ganze ab und klappe meinen Laptop zu. Ich werde morgen entscheiden, ob ich es wirklich auf meine Homepage stellen will oder nicht. Ich werde keine große Werbung machen. Wer weiß, ob es überhaupt jemand lesen möchte.
   Ich gähne und werfe einen Blick auf die Uhr. Schon nach drei! Das wird ein harter Tag morgen.
   Ich gehe nach oben, fünf Minuten später ziehe ich mir die Bettdecke über die Schultern und schlafe sofort ein.