Tote Frauen lügen nicht

Krimikomödie, Cosy Crime, Regiokrimi


Ein anonymer Verehrer, ein tragischer Mordfall und das große Chaos

Der neue Krimi von Angelika Lauriel!

Das Liebesleben von Lucy Schober und Kriminalkommissar Frank Kraus ist endlich perfekt, denn sie freuen sich auf die bevorstehende Geburt ihrer Zwillinge. Alles läuft ausgezeichnet – bis ein geheimnisvoller Verehrer Lucy mit anonym versandten Gedichten und Blumen bedrängt. Frank reagiert mit Vorsicht anstatt mit Eifersucht. Zudem verhält sich Ilina, Lucys Freundin, in letzter Zeit seltsam. Lucy ahnt, dass eine tragische Geschichte hinter Ilinas Verhalten steckt. Deswegen will Lucy ihr helfen, doch schneller, als beiden Frauen lieb ist, geraten sie in ein Netz aus Lügen und Verleumdungen, das mit Franks aktuellem Mordfall im „Milieu“ zu tun hat. Aber Lucy wäre nicht Lucy, wenn sie dabei nicht in Lebensgefahr geriete. Können die beiden Frauen gerettet werden, oder kommt jede Hilfe zu spät?

Cosy Crime Saarland

 

Leserstimmen:

Wer auch mal ein Krimi ohne Blutvergießen lesen mag, ist bei diesem humorvollen und spannenden Cosy-Krimi genau richtig.Eine gelungene Mischung aus Spannung, feinem, ironischem Humor und ein bisschen Liebe.

Mir hat diese Mischung sehr gut gefallen. Ich kann das Buch auf jeden Fall empfehlen.

 

Überall im Online-Buchhandel

 

E-Book €4,99, Print (374 S.) €10,80 jetzt kaufen:

Amazon

Thalia


Textschnipsel, gelesen von Angelika Lauriel


Artikel zur Buchpremiere in der SZ


XXL-Leseprobe

 Erinnerung – Fünf Jahre zuvor

 

»Komm schon, lass doch die Pennerin!« Leonies Freunde schlenderten kopfschüttelnd weiter, als sie neben dem großen Stoffbündel in einem dunklen Hauseingang stehen blieb. Sie zögerte. Wollte sie wirklich wissen, ob sich unter diesem Altkleiderhaufen ein Mensch verbarg, während ihre Freunde den nächsten Club anstrebten, um die Graduiertenfeier fortzusetzen?

Schon in der Schule und dann während des Journalismus-Studiums hatte Leonie die Kluft immer deutlicher gespürt, die zwischen ihrem Leben und dem der Menschen lag, die sie  interessierten, nämlich diejenigen auf der anderen Seite, die schon von Geburt an weniger Glück hatten als sie selbst. Es war Zeit, diese Kluft zu überspringen, also gab sie ihrem Impuls nach und beugte sich vor. Sie erkannte lange Haare und einen angewinkelten Arm, der unter den alten Decken hervorlugte. War das eine Frau oder noch ein Mädchen?

 »Leo?«, hörte sie die Stimme einer ihrer Studienkolleginnen. »Wir gehen zur Amphore. Kommst du nach?« Leonie winkte ihr zu, bevor sie sich umdrehte und in die Hocke ging.

 Die Frau lag zusammengekauert auf der Seite, und lange dunkelblonde Haare mit aufgehellten Spitzen verdeckten ihr Gesicht, sodass Leo ihr Alter nicht einschätzen konnte. Die Strumpfhose unter dem kurzen Jeansrock sah fleckig aus, erst beim genauen Hinsehen erkannte Leonie Blut. Auch die Bluse war blutbefleckt. Leonie kämpfte ihren Fluchtimpuls nieder.

 »Hallo, hören Sie mich?« Eine innere Erregung ergriff Leonie, die nicht nur der Sorge um diese Person geschuldet war: Das hier war vielleicht der Anfang von allem. Von dem, was sie wirklich wollte. Über die Benachteiligten schreiben, die Menschen zum Hinsehen zwingen und den armen Kreaturen dadurch helfen. Dass sie selbst sich nicht einfach wieder zurückziehen konnte, war klar. Als die Frau leise stöhnte und sich rührte, bemerkte Leonie, dass sie ihr unwillkürlich die Hand auf den Oberarm gelegt hatte. »Was ist mit Ihnen?«, fragte sie.

Die Angesprochene drehte den Kopf in Leonies Richtung. Die Haare lagen noch immer in klebrigen Strähnen auf ihrem Gesicht, aber darunter erkannte Leonie jetzt die Züge eines jungen Mädchens. Jünger als sie selbst, viel jünger. Es blinzelte ins Licht der Straßenlaterne und ließ die Augenfarbe erkennen: helles Grüngrau, eine Farbe, wie man sie nicht oft sah. Die Wimpern waren so stark getuscht, dass sie wie die Beine einer dicken Spinne wirkten, der dunkle Lidschatten war viel zu dick aufgetragen und zu schmierigen Klecksen verwischt. Sie war noch benommen, Leonie konnte sehen, wie sich zuerst Panik, dann Überraschung und Erleichterung in ihrem Blick abzeichneten, alles unter zusammengezogenen Brauen. Leonie schloss daraus, dass sie Schmerzen litt.

Mit einer hellen Stimme murmelte das Mädchen Worte, die Leonie nicht verstand. Sie zückte ihr Handy, doch der Arm des Mädchens schoss vor, und mit erstaunlich festem Griff packte es Leonies Arm. Ein Schwall Wörter sprudelte aus seinem Mund hervor, die Sprache war für Leonie nicht erkennbar. Das Mädchen schüttelte den Kopf.

 »Ich rufe den Notarzt«, sagte Leonie eindringlich. »Du bist verletzt, jemand muss nach dir sehen.«

 Wieder sprach das Mädchen Unverständliches und versuchte, sich aufzusetzen. Leonie stützte es mit der freien Hand, bis es auf dem Bürgersteig saß. Die Haare rutschten aus seinem Gesicht und hingen auf eine Bluse herunter, die aufgeknöpft war. Ein Nichts von einem blutroten Spitzen-BH umspannte die kleinen Brüste. Auf der Haut sah Leonie Flecken, deren Herkunft sie lieber nicht wissen wollte. Hämatome zeichneten sich ab, die noch frisch sein mussten und fast zusehends dunkler wurden.

 Eine Mischung aus Schweiß, blumigem Parfüm, billigem Aftershave, Alkohol und noch etwas anderem schlug Leonie entgegen. Sie sog scharf die Luft ein. Willkommen in der realen Welt. Noch immer klammerte sich das Mädchen mit beiden Händen an ihren Armen fest und redete auf sie ein.

 Leonie ließ den Blick über seinen Körper wandern, entdeckte aber glücklicherweise keine offenen Wunden, nur viele Kratzer. Woher stammte das viele Blut? Das Mädchen starrte Leonie mit seinen unglaublichen Augen an. Es musste eine Schönheit sein, versteckt unter einer dicken Schicht aus Schminke und Dreck.

 Leonie half dem Mädchen auf die Beine. »Wie alt bist du?«

 »Achtzehn«, sagte das Mädchen mit einem starken Akzent.

 Leonie lachte bitter. »Niemals.« Sie strich dem Mädchen vorsichtig die Haare über die Schulter zurück. Es war etwa so groß wie sie selbst und noch schlanker, beinahe dürr.

 Das Mädchen steckte offensichtlich tief in Schwierigkeiten. Und Leonie jetzt auch, denn sie konnte nicht so tun, als wäre nichts. Sie hob das Handy wieder hoch und hielt den Arm des Mädchens fest. Es machte einen schwachen Versuch, sich zu befreien, aber von der Kraft, die Leonie eben in seinem Griff gespürt hatte, war nichts mehr übrig, und schließlich ließ es die Schultern sinken.

»Ich rufe einen Notarzt. Keine Angst, alles wird gut.«

 Ganz mechanisch sprach sie die Trostworte, die ihre Mutter ihr früher immer ins Ohr geflüstert hatte, wenn sie aus Albträumen aufgeschreckt war. Ob sie je selbst daran geglaubt hatte?

 Viele Stunden später, es wurde bereits hell, gab sie einer Polizistin zu Protokoll, unter welchen Umständen sie das Mädchen gefunden hatte. Sie fragte, woher es komme, wie alt es sei, und ob ihm geholfen werde. Die Polizistin rieb sich über die Augen, dann sah sie Leonie mit einem resignierten Blick an. »Wollen wir es hoffen.«

 Als Leonie am späten Vormittag endlich den Vorgarten der elterlichen Villa am Harvestehuder Weg betrat, hatte sich ihre Welt gewandelt. Obwohl sie geahnt hatte, worüber sie schreiben würde, hätte sie nicht gedacht, dass es sie so unverhofft überfallen würde. Ihre Eltern würden nicht begeistert sein.

 Sie jedoch wusste bereits, wem sie die Story anbieten wollte. Und vielleicht war Mircela noch zu retten.

 Mircela war jetzt das Wichtigste.

 

Kapitel 1

 

›Na endlich!‹ Heulsuse lacht in meinem Kopf befreit auf und Lady Tough applaudiert, beide natürlich nur für mich hörbar.

 Ich sehe unbeirrt Doktor Treibel an und zucke mit keiner Wimper. Wenn mein Psychotherapeut von der Existenz meiner inneren Zwillinge wüsste, würde er mir noch unzählige weitere Sitzungen in seiner düsteren Praxis aufzwingen, daran zweifle ich keine Sekunde. Was für ein Glück, dass ich ihm niemals von meinen ganz persönlichen Ratgeberinnen erzählt habe.

 ›Was für ein Glück, dass du ausnahmsweise ganz unserem Rat gefolgt bist, das ist ja schlechterdings nicht immer deine Strategie‹, erklingt kühl die Stimme von Lady Tough.

 ›Das stimmt‹, pflichtet Heulsuse ihr bei. ›Du hättest niemandem‹ — sie betont das Wort, als wäre es in Großbuchstaben geschrieben — ›davon erzählen sollen. Nicht einmal deiner Lieblingsschwester!‹ Ihre sonst etwas weinerliche Stimme nimmt einen scharfen Tonfall an, was es mir schwermacht, nicht mimisch oder mit Gesten auf ihre Vorwürfe zu reagieren.

 Klappe, sonst war alles umsonst, denke ich an die beiden gerichtet. Sie gefährden noch meine baldige Entlassung aus der Therapie.

 Von meinen inneren Zwillingen weiß niemand außer meiner Rebellenschwester Kat, die wie ich schon als Kind gegen unsere Streberfamilie aufbegehrte. Versonnen lächle ich beim Gedanken an Kat und ihre Biohühner. Doch selbst ihr gegenüber erwähne ich Lady Tough und Heulsuse schon lange nicht mehr. Zu gut kann ich mich daran erinnern, wie sie, als es mir während der Serie an Mordversuchen im letzten Jahr an den Kragen ging, reagierte, als ich ihre Frage, ob ich innere Stimmen hören würde, mit einem klaren »Ja« beantwortete. Dabei ging es mir da so schlecht, dass kein Mensch ernsthaft behaupten kann, diese Stimmen wären Zeichen einer psychischen Erkrankung gewesen, da stimmen Sie mir sicherlich zu?

 Aber bevor ich mich auf der Psychocouch in diesen Erinnerungen verliere, straffe ich die Schultern und versuche, mit voller Konzentration wieder zu meinem Therapeuten zurückzukehren.

 »Fräulein Schober?« Doktor Treibel wartet auf eine Antwort. Er sitzt vorgebeugt in seinem Sessel und betrachtet mich.

 »Oh ja.« Ich schiebe die Beine zur Seite und setze mich aufrecht auf das Sofa. »Ich kann wieder arbeiten. Ich habe alles hinter mir gelassen.«

 Er spitzt die Lippen, wodurch er mich an meinen Chef im Callcenter Mediaboutique Saarlouis erinnert. Beide sehen mit dieser Mimik so verdorrt aus wie Sultaninen, deren Haltbarkeitsdatum überschritten ist. Trotzdem werde ich überglücklich sein, wenn ich den Chef wieder täglich sehe. Das hätte auch ich niemals für möglich gehalten, glauben Sie mir.

 ›Du freust dich auf die Arbeit bei Dürri?‹, zischt Lady Tough. ›Dass ich nicht lache!‹

 Ich ignoriere den Zwischenruf.

 »Gut, dann wünsche ich Ihnen für die Zukunft viel Glück.« Treibel steht auf und streckt mir die Hand hin. »Erstaunlich, wie gut Sie das alles verkraftet haben.« Er sieht auf meinen Bauch, der vom doppelten Babyglück, das darin heranwächst, noch nichts erkennen lässt. »Meinen Glückwunsch! Ich vermute, es hängt mit Ihrem Zustand zusammen.«

 »Ja, ganz bestimmt. Die Zwillinge machen mich stark.« Zweistimmiges Gelächter erklingt in meinem Kopf. Ich werde ein ernstes Wörtchen mit den Damen reden müssen, sobald ich allein bin. Sie sind nicht mehr die Zwillinge, um die sich alles dreht. Ich bin gespannt, wie sie darauf reagieren werden. Natürlich ist mir klar, dass ich Lady Tough und Heulsuse endgültig zum Schweigen bringen muss, weil … nun ja, ich sehe ein, dass sie mich eher belasten, als mir hilfreich zur Seite zu stehen. Aber trotzdem werde ich das ganz alleine hinbekommen, ohne die Hilfe eines sogenannten Fachmanns, der doch sofort die Gelegenheit beim Schopf ergreifen würde, nur um noch mehr Geld an mir zu verdienen. Ich weiß ja, dass ich das kann, schließlich habe ich es schon einmal geschafft: nach der Mordserie im letzten Sommer, an der ich irgendwie mit schuld war.

 Ich lege eine kurze Gedenkminute an meinen ehemaligen Kollegen Maurice ein, der in seinem etwas einfach gestrickten Weltbild glaubte, die Kunden der Mediaboutique abmahnen zu müssen, die mich durch ihre Unflätigkeiten am Telefon zum Weinen gebracht hatten. Seither ist er Patient der Klinik in Merzig, und ich muss gestehen, dass ich nach einem Besuch dort meine Anwandlung, in Sachen Traumabewältigung Dr. Treibel meine inneren Zwillinge zu enthüllen, ganz schnell niedergekämpft habe. Und das ist auch gut so, sonst könnte ich heute bestimmt noch nicht wieder in meinen Job einsteigen. Ja, stimmt, es ist ein ungeliebter Job. Aber dennoch erleichtert es mich, dass ich mich nicht mehr nur mit meiner kleinen Maisonette-Wohnung im Ortsteil Beaumarais, meinem Liebsten, Kriminalkommissar Frank Kraus — der leider eher zu viel als zu wenig Arbeit hat, seit er mit dem Gedanken spielt, sich befördern zu lassen — und mit Babykram beschäftigen muss. Ganz ehrlich, nach der Lawine unzähliger geschenkter und ungelesener Bücher zum Thema Zwillingsaufzucht habe ich die Nase bereits gestrichen voll und freue mich, wenn ich wieder unter normale Menschen komme, vor allem meine liebe Arbeitskollegin und Freundin Lena Kougelhupf, die mit meinem Juristenbruder Rouwen erste Pläne einer gemeinsamen Zukunft schmiedet. Natürlich werde ich die Produktion von Babykleidung, die ich in den langen, freien Tagen aufgenommen habe, einstellen müssen, aber das ist nicht weiter schlimm, weil ich längst eine komplette Erstlingsausstattung zusammen habe, und zwar zweifach, wie es bei Zwillingsmüttern nun mal nötig ist.

 Sie wundern sich? Ja, ich habe mich an ein Hobby aus meiner Adoleszenz-Phase erinnert. Damals, als ich noch nicht wusste, dass ich mal Grundschulpädagogik studieren würde (was ich geschmissen habe), hatte ich gerade mein Herz fürs Nähen entdeckt. Ich habe mir in den späten Teeniejahren zahlreiche coole Röcke, Hosen und Oberteile selbst genäht. Auch meine Rebellenschwester Kat hat heute noch ein paar Einzelstücke von meiner Nadel in ihrem Schrank hängen. Aber mit diesem Hobby — das meine Mutter, die Apothekerin, mit einer Sorge betrachtete, die ich niemals ganz verstanden habe — hörte ich damals auf, als ich in meinem Studiengang feststellen musste, dass die angehenden Grundschullehrerinnen ebenfalls begeisterte Schneiderinnen waren, jedenfalls viele von ihnen. Und das passte natürlich nicht zu meinem Selbstbild. Ich wollte damals durch die Wahl meines Studiengangs zwar vor allem gegen meine elitären Eltern rebellieren, aber mich den Kommilitoninnen zugehörig fühlen? Das wollte ich nicht. Mir kam es deshalb entgegen, dass meine Mutter vollauf begeistert das Ende meiner Schneider- und Designerkarriere mit einem Überfluss an teurer Designermode feierte, die sie mir schenkte. Heute, nach so vielen Jahren, ist mir meine damalige Haltung nicht mehr nachvollziehbar, aber nun ja, damals war ich noch wild und ungezähmt.

 ›Wild und ungezähmt, pff.‹ Sie müssten den Tonfall hören, in dem Lady Tough meine Gedanken wiederholt. ›Merkste selbst, oder?‹ Immerhin erreicht sie mit ihrem respektlosen Einwurf, dass ich mich aus dieser Erinnerungsschleife herauskatapultiere, aufstehe und Doktor Treibel die entgegengestreckte Hand schüttle.

 Als ich kurz darauf die Praxis meines Psychologen verlasse, fühle ich mich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder frei. Es ist nur vergleichbar mit dem Tag, an dem Frank mich aus den Klauen seines psychopathischen Kollegen Herbert rettete. Auch diesen Gedanken vertreibe ich rasch wieder. Das ist Geschichte.

 Die sehr vitalen Zwillinge, die in meinem Bauch heranwachsen, haben sich uneingeladen zu uns gesellt. Aber wir haben ja noch viele Monate Zeit, uns auf sie zu freuen. Das Jahr ist noch jung, und erst im Sommer werden wir zu viert sein. Ich schlucke jedes Mal, wenn ich an die Geburt denke. Ich, Lucinda Schober, die nichts-auf-die-Reihe-Bekommerin, werde meine eigene Familie haben! Ohne Heiratsurkunde, das haben Frank und ich einmütig beschlossen, und es hat die Lage zwischen uns ungemein entspannt.

 Ein Lächeln auf den Lippen, schlendere ich über den Großen Markt zur Fußgängerzone. Die Februarsonne strahlt und gibt trotz der Kälte eine erste Vorahnung darauf, wie zauberhaft Saarlouis bald erblühen wird. Ich denke darüber nach, ob ich zur Wache in die Alte-Brauerei-Straße gehen soll. Vielleicht hat Frank Zeit für eine Tasse Kaffee.

»Lucy!« Die dunkle Frauenstimme ruft meinen Namen, als handle es sich um einen Befehl. Unwillkürlich straffe ich die Schultern, um größer zu erscheinen, und hebe das Kinn, bevor ich mich zu ihr umdrehe. Einen Monat habe ich sie nicht gesehen, und keine Sekunde habe ich sie vermisst. Immerhin trägt sie die Haare jetzt wohl endlich in ihrer Naturfarbe, nachdem sie vorher meinen Stil imitiert hatte. Weizenblond und schulterlang sind sie inzwischen. Sie fallen in weichen Wellen und sehen natürlich zum Niederknien aus. Ich kann nicht umhin, Ilinas natürliche Eleganz zu bemerken, mit der sie sich bewegt. Und um die ich sie von der ersten Sekunde an beneidete, als unser Chef Dürrbier sie letzten Sommer in unserem Callcenter Mediaboutique vorstellte.

 Sie hat gar nichts Polnisches an sich, so auf den ersten Blick. Ihre Anmut, der Schnitt ihres feinen Gesichts und die himmelblauen Augen sind international; am ehesten erinnern sie mich an Grace Kelly. Ich seufze heimlich und ärgere mich über meine Gedanken. Eigentlich habe ich mir jegliche Vergleiche mit Ilina längst verboten. Umso mehr, als ich schwanger bin und täglich damit rechnen muss, auseinanderzugehen wie eine Dampfnudel.

 Während Ilina sich mir nähert, bemerke ich überrascht, dass es mich tief im Innern freut, sie zu sehen. Zwar habe ich sie als intrigante Person erlebt, die mich aus unbekannten Gründen auf dem Kieker hatte. Andererseits hat sie mich in der Mediaboutique mit ihrem unvergleichlichen Vanillekaffee so oft aus tiefen Abgründen gerettet, wenn ich mit berüchtigten Horrorkunden wie dem »Hengst von Hamburg« zu tun hatte. Und auf ihre barsche Art ist sie richtig witzig. Zumindest, wenn die Scherze nicht auf meine Kosten gehen. Deshalb bin ich trotz aller Wiedersehensfreude auf der Hut, als sie schließlich heran ist und den Kopf leicht schräg legt, womit sie in der Männerwelt vermutlich immer sofort punkten kann. Vielleicht kann ich mir bei ihr auch noch was abgucken, um meine eher ungeschickte Art meinen Mitmenschen gegenüber zu verbessern, schießt es mir durch den Kopf.

 »Ist es wahr, was sagt Lena? Kommst du bald wieder zum Arbeiten?«

 ›Ach‹, seufzt Heulsuse in meinem Kopf, ›sie hat so einen entzückenden Akzent.‹

 Verräterin, denke ich konsterniert.

 Ilina schüttelt mir kurz die Hand. Als wäre das nicht schon überraschend genug, beugt sie sich plötzlich vor und zieht mich für eine Sekunde wie eine Freundin in die Arme.

 »Ähm, ja. Ich komme gerade vom Psychologen.« Ich stocke. Da hat sie mich mit ihrer herzlichen Begrüßung doch glatt ausgeknockt! Weshalb bin ich so bescheuert und gebe sowas zu? Geringschätzung ist bekanntermaßen eine ihrer Haupttugenden.

 »Verstehe. Hast du schlimme Erfahrungen gemacht.« Sie schluckt. Bleibt ihr etwa die Stimme weg? Wer ist dieses empathische Wesen, und was hat es mit der Schlange Ilina gemacht?

 »Lucy, hallo Lucy! Warte mal!« Bei den Rufen, die ich höre, habe ich sofort ein Bild vor Augen: Die Frau schiebt hektisch einen Kinderwagen vor sich her, die eine Hand in der Luft, und winkt mir, obwohl ich sie noch gar nicht sehen kann. Das Bild bestätigt sich in dem Moment, in dem ich mich umdrehe. Ellen, Franks Exfrau. Es gibt mir jedes Mal einen winzigen Freudenstich im Bauch, wenn ich die Vorsilbe »Ex« denke. Die beiden haben es in letzter Sekunde geschafft, sich scheiden zu lassen, bevor das Baby geboren wurde. Nun sind Ellen und der Dieter zwar noch nicht verheiratet, aber wenigstens brauchen sie kein kompliziertes Vaterschaftsverfahren anzustrengen. Ohne die Scheidung wäre nämlich Frank der rechtliche Vater der kleinen Paula geworden, obwohl er und Ellen schon lange kein Paar mehr sind. So wird das Baby in Kürze den klangvollen Namen Schimmelschnulze erhalten, und ich weiß aus erster Hand, dass Ellen bereits Unterschriften geübt hat. Sie hat eine Weile gebraucht, sich damit anzufreunden, aber jetzt liebt sie ihn ebenso sehr wie den Dieter, der ihn ihr beschert hat. Und – nun ja – anspruchsvoller als Kraus, Franks Nachname, ist er allemal. Unter uns gesagt.

 Seit Silvesternacht, in der sie ihr Kind zur Welt brachte, habe ich Ellen nicht mehr gesehen. Sie wirkt ein bisschen fülliger als früher, was ihre Ausstrahlung einer lebensfrohen und sinnlichen Frau kein bisschen mindert, im Gegenteil. Die Haare hat sie in einem nachlässigen Dutt zusammengenommen, sie ist in eine kuschelige Jacke gekleidet, die sie auch in der Schwangerschaft trug. Der Reißverschluss ist offen, was mir einen Blick auf ihren überdimensionierten Busen erlaubt. Der ist neu. Als sie heran ist, kann ich in ihren Augenwinkeln Müdigkeit erkennen. Ein kleiner Widerspruch zu der wonneproppigen Lebensfreude, die sie ansonsten ausstrahlt.

 »Oh, Ellen, wie schön! Lass mich mal Paula sehen.« Schon beuge ich mich über den Kinderwagen und sehe ein schlafendes Baby mit Schnuller im Mund. Erst danach begrüße ich Ellen mit zwei Wangenküsschen.

 Ilina wirft ebenfalls einen Blick in den Buggy, bevor sie Ellen ein hinreißendes Lächeln schenkt. »Ist sie eine wunderschöne kleine Honigschnute. Herzlichen Glückwunsch!«

 Ellen lacht laut. »Oh, vielen Dank. Ja, sie ist so ein Schatz.« Sie blickt sich um und deutet auf das Eiscafé, vor dem soeben ein kleiner Tisch frei wird. Bei diesem Sonnenschein hat der Betreiber Tische und Stühle nach draußen geholt und warme Decken bereitgelegt. »Wollen wir einen Kaffee trinken?« Sie schiebt den Buggy über den Weg.

 Da bleibt mir wohl keine Wahl, wenn ich Ellen nicht vor den Kopf stoßen will. Außerdem wollte ich ohnehin einen Kaffee trinken. Ich sehe Ilina an, und ich fürchte, ein heimliches Flehen liegt in meinem Blick, denn noch bevor ich sie frage, ob sie auch möchte, sagt sie: »Kommt mir ein Kaffee gerade recht.« Sie wirft einen Blick auf die Armbanduhr. »Zwanzig Minuten habe ich noch.«

 Ellen hat den Kinderwagen bereits schräg neben einem kleinen, runden Tisch geparkt. Ilina und ich setzen uns hin, als ein erstes Wimmern aus dem Wägelchen erklingt, und von einer Sekunde auf die andere macht Ellen den Eindruck einer Frau, die komplett aus dem Hier und Jetzt abtaucht. Sie beugt sich über den Kinderwagen und hebt vorsichtig ihr Baby heraus, das mit einem »Plopp« seinen Schnuller ausspuckt. Ich will schon mit einer hastigen Bewegung danach greifen, als ich sehe, dass er an einer bunten Holzperlenkette baumelt. Die Mutter drückt das Baby an sich, Wange an Wange, und obwohl sie in meine Richtung schaut, bemerke ich, dass Ellen wortwörtlich nichts sieht. Ein eigenartiges Gefühl überkommt mich plötzlich und unerwartet – ist es Rührung? Schließlich trage auch ich heranwachsendes Leben in mir.

 ›Und was ist daran so besonders?‹ Es ist Lady Tough, die sich zu Wort meldet und mich davor bewahrt, in einen gefühlsduseligen Kitschtaumel zu verfallen. Interessanterweise pflichtet Heulsuse ihr bei. Sollte man nicht meinen, dass mein nah am Wasser gebautes inneres Sensibelchen in Sachen Kindesglück auf meiner Seite stünde? Mitnichten.

 Ellen lässt sich auf den Stuhl sinken, bringt in einer einzigen Bewegung das Kind in die richtige Position und gibt ihm die Brust. Sofort entspannt sie sich und kehrt mental wieder zur Erde zurück. Sie lächelt uns an. »Was möchtet ihr? Ich gebe einen aus.«

 Wenige Minuten später kämpfe ich innerlich gegen eine Panikattacke an, denn in meinem Kopf formt sich in mindestens zwei Tonlagen die Frage, ob ich es hinbekommen kann, in der Öffentlichkeit meine Kinder zu ernähren. So? Und dann gleich zwei?

 »Lucy, träumst du?«

 Ich zwinkere und wende den Blick von dem saugenden Symbionten an Ellens Brust ab. Ellen und Ilina sehen mich abwartend an.

»Ähm …«

Warum grinst Ilina? Erst als Ellen loslegt, wird mir klar, dass ich wohl einen ausführlichen Vortrag verpasst habe, den sie gehalten hat. »Hast du mir überhaupt zugehört? Wie ich dir gerade erklärt habe, ist Stillen das Praktischste, was du dir denken kannst.« Sie legt sich eine Mullwindel über die Schulter, nimmt das Baby hoch und tätschelt ihm den Rücken. Meine Antwort wartet sie gar nicht erst ab, sondern spricht sofort weiter. »Es ist schön, wirklich. Wenn es sich mal eingespielt hat, ist es schön.«

»Bei mir werden es aber zwei Säuger sein«, wage ich zu bedenken zu geben.

 »Aber du bist ja nicht allein, du hast Frank an deiner Seite … dass ihr Zwillinge bekommt, weiß er ja wohl?«

 Ilina lässt ihre Blicke von Ellen zu mir wandern, sie kann ihr Feixen nicht unterdrücken. Ich spare mir eine Antwort.

 »Möchtest du sie mal halten? Sie ist nach dem Trinken meistens gut gelaunt.« Schon steht Ellen auf und reicht mir das Baby über den Tisch. Keine Chance, abzulehnen. Ungeschickt springe ich hoch und nehme das Bündel entgegen. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich ein Baby in den Händen halte. Ich weiß nicht, wie ich sie anpacken soll, aber Ellen setzt sich einfach. Sie ist erstaunlich unaufgeregt, mir unerfahrener Person ihr Wichtigstes anzuvertrauen. Was, wenn ich es kaputtmache?

 Das Baby schaut mich mit riesigen Knopfaugen in einer undefinierbaren Farbe an. Es hat ein Strickmützchen auf dem Kopf, ich kann seine Haare nicht sehen. Der Mund und die Nase sind so winzig! Überhaupt ist alles an Paula winzig, und ich wundere mich über das Gewicht, das mir nicht zu ihr zu passen scheint. Endlich beschließe ich, sie so zu halten, wie Ellen es gerade vorgemacht hat. Das Baby ist ja wach, also lege ich es mir an die Schulter. Sein Geruch löst in meinem Hirnstamm irgendwas aus. Ich fühle eine unglaubliche Zärtlichkeit diesem fremden Kind gegenüber.

 ›Das sind bloß die Hormone‹, sagt Lady Tough in abfälligem Ton und klingt dabei wie Doktor Cristina Yang in meiner all-time-Lieblingsserie Grey’s Anatomy. Leider hat sie recht.

 ›Wollte ich auch gerade sagen.‹ Heulsuse liebt die Krankenhausserie ebenfalls heiß und innig.

 Innerlich stöhne ich auf. Wieso sind die beiden in den letzten Tagen wieder so aktiv? Ich muss sie verbannen, endgültig. Wie wohltuend es war, die inneren Stimmen nicht mehr zu hören. Nachdem ich mit Frank zusammengekommen war, hatte ich sie komplett unter Kontrolle. Bis vor ein paar Monaten, als die Geschichte mit Herbert begann, da sind sie mir wieder zu Hilfe geeilt, ungebeten natürlich. Aber daran will ich jetzt nicht mehr denken.

 Paulas Köpfchen wird schwerer, und ihr gleichmäßiger Atem verrät mir, dass sie einschläft. »Ellen, nimm du sie wieder.« In dem Moment, in dem ich aufstehe und mich vorbeuge, damit die Mutter mir das Kind aus den Armen nehmen kann, rührt das Baby sich. Es macht einen Ton, und ich spüre, wie der Kragen meiner Winterjacke nass wird.

 »Ups!« Ellen lacht und nimmt Paula. Das Baby schläft einfach weiter, als hätte es mir nicht gerade meine Lieblingsjacke vollgekotzt. Das gibt Punktabzug. »Aber jetzt erzähl mal. Wie weit seid du und Frank denn mit euren Planungen?«

 »Planungen?«, echoe ich schwach.

 Ich mag Ellen sehr, ohne Zweifel. Aber bislang kümmerte sie sich ausschließlich um den Dieter, die Trennung von Frank und die Vorbereitungen auf die Geburt. Ich war bisher nie in ihrer Schusslinie, und solange es nicht um mich ging, konnte ich über vieles lachen, was sie von sich gab. Oft erfuhr ich erst durch Frank von ihren Aktionen, und ich musste ihr teilweise Respekt zollen für ihre Schlagfertigkeit. Dadurch, dass wir beide in einem Chor singen und immer gemeinsam zu den Proben fahren, ist eine lockere Frauenfreundschaft zwischen uns entstanden. Trotzdem: Ich habe keinerlei Ambitionen, meine Beziehung zu ihrem Exmann mit ihr zu erörtern.

 ›Sie könnte dir aber den einen oder anderen Tipp geben, Herzchen.‹ Also bitte, wenn Lady Tough mich schon ›Herzchen‹ nennt!

 Schnauze, zische ich in Gedanken und stülpe schnell den Deckel über den geistigen Kübel, in dem all das vor sich hinbrodelt, was mir an meinem geliebten Kriminalkommissar – in sehr seltenen Momenten – den letzten Nerv raubt. Entschlossen schiebe ich mehrere innere Bilder zur Seite: Seinen ewigen Schmutzwäschehaufen auf und neben dem Stuhl, die Plattensammlung auf dem Sideboard, die meinen Gildeclowns ihren Lebensraum streitig macht, seine in der gesamten Wohnung verteilten Schuhe und die *ächz* stets offene und deformierte Zahnpastatube im Bad. Und das alles in meiner kleinen Wohnung! Meine Näh-Orgien haben die Situation natürlich nicht gerade einfacher gemacht.

 »Also, ich kann dir nur sagen, wenn du in Frank einen echten Partner haben willst, musst du früh anfangen, ihn zu erziehen.«

 Bei ihrem letzten Wort bleibt mir der Schluck Kaffee im Hals stecken, den ich gerade genommen habe. Mein Hustenanfall erspart es mir, darauf zu antworten.

 »Ich kenne ihn. Er braucht ewig, um sich auf Veränderungen einzustellen. Wenn das Kind erst mal da ist, sind alle Versprechungen verpufft. Das Baby ändert alles.«

 Ich runzle die Stirn. Ilina neben mir hat den Rücken durchgestreckt. Wahrscheinlich weidet sie sich an der Realsatire, die vor ihren Augen abläuft.

 »Zuerst häkeln und stricken sie noch Mützchen und versprechen, dass sie nachts aufstehen, wenn das Baby weint. Aber glaub mir, bei den Kerlen klappt das mit dem Mutterinstinkt nicht so. Die ticken anders.« Sie hat angefangen, den Buggy zu schaukeln. Ihre Bewegungen werden mit jedem Satz heftiger. »Aber der Herr ist ja zu müde von der Arbeit und den Kursen, die er hält. Der kriegt es gar nicht erst mit, wenn die Kleine sich vollgekackt hat und rumbrüllt wie eine Sirene.« Der Buggy wippt bedrohlich auf und ab. Ich sage nichts, spüre nur Ilinas Hand, die sich auf mein Bein gelegt hat und ab und an zudrückt. Ich kann ihr Verhalten nicht genau interpretieren, zu sehr bin ich von Ellen gebannt, deren Gesicht jetzt nicht mehr fröhlich und zufrieden wirkt.

 »Und der Dieter ist ein guter Vater!« Sie wird laut, anscheinend muss sie sich selbst davon überzeugen. »Was meinst du erst, wie das mit Frank wird? Bereite ihn darauf vor, sag ihm, dass du es allein nicht schaffen wirst. Er soll Überstunden sammeln und nach der Geburt solange frei machen, wie er kann. Du musst ihn mit zur Geburtsvorbereitung nehmen, er muss lernen, wie das geht. Du kannst dich nicht um zwei Babys gleichzeitig kümmern.« Sie hält einen Moment inne. Paula wimmert jetzt, und Ellen steckt ihr grob den Schnuller in den Mund. Ihr ist gar nicht aufgefallen, wie paradox ihr letzter Satz klingt; natürlich werde ich mich um zwei Babys kümmern müssen!

 Ilina hat zwischenzeitlich die Kellnerin herbeigewunken und zahlt unsere drei Kaffee. Sie nimmt meinen Ellbogen. »Lucy, wir müssen. Ist es höchste Zeit, Dürrbier wartet.«

 Ellen ruckt mit dem Kopf hoch. »Arbeitest du wieder? Ich dachte, du bist noch in Behandlung. Auch so ein Thema. Unterstützt er dich darin?«

 Ich fasse nicht, was mit Ellen passiert. Dankbar lasse ich mich von Ilina hochziehen. »Ja, ich arbeite wieder. Danke für deine guten Ratschläge, aber bitte heb sie in Zukunft auf, bis ich dich danach frage.«

 Erst als wir um die nächste Ecke gebogen sind, erlauben Ilina und ich uns, lauthals loszulachen. Die miesepetrigen Äußerungen meiner inneren Zwillinge überhöre ich einfach, und es funktioniert.

 »Dachte ich immer, Horrorliste auf Arbeit ist für dich das Schlimmste.« Ilina zieht ihre aristokratischen Brauen hoch, und dieses Mal höre ich deutlich einen Abklatsch der gewohnten Geringschätzung. »Aber nein, ist dein Leben noch viel gruseliger.« Mich überläuft ein Schauder bei ihren Worten.

 Ich begleite Ilina bis zur Mediaboutique, weil ich meinen Wagen eh auf dem Großen Markt geparkt habe. Sie erkennt meinen Twingo und deutet mit dem Kinn in seine Richtung.

 »Falls du willst kaufen neues Auto, würde ich übernehmen die Nuckelpinne.«

 Ich zucke nur mit den Schultern und blicke an der Front des großen Gebäudes hoch, Ilina folgt meinem Blick. »Tja, wirst du bald wieder jeden Tag herkommen. Ach, fällt mir ein, hast du heimlichen Bewunderer.« Sie bleckt in einem Grinsen wie in ihren besten Zeiten die Zähne, eine Augenbraue possierlich hochgezogen.

 Ich runzle die Stirn. »Wie meinst du das? Was für einen Bewunderer?«

 »Ist Gedicht in Mediaboutique für dich angekommen.« Sie malt Anführungszeichen in die Luft. »›An holde Lucinden‹ steht darüber.« Sie lacht schnaubend, ihre Augen blitzen vor Vergnügen. Also ist sie doch noch die eher niederträchtige Person, als die ich sie kennengelernt habe.

 Ich verdrehe die Augen. Mein Name in voller Länge ausgesprochen ist schon schlimm genug, aber noch ein -n drangehängt? Wer macht denn sowas?

 ›Frank jedenfalls nicht‹, erklären die Zwillinge in meinem Kopf unisono. Als ob ich das auch nur für eine Sekunde angenommen hätte. Ein Gedicht von Frank? Dazu hätte er gar nicht die Zeit.

 Ich starre noch immer Ilina an, und tief in mir drin wird ein Erinnerungsschnipsel geweckt, aber ich finde keine konkrete Info, um welche Art von Erinnerung es sich handelt. Das beunruhigt mich eine Sekunde, weil ein eigenartiges Gefühl damit verbunden ist, aber dann straffe ich die Schultern. Wahrscheinlich weckt die Tatsache, dass mir jemand ein Gedicht geschickt hat, eine Assoziation zu einem meiner früheren Freunde, und ganz im Ernst? Die können mir gestohlen bleiben. Also zucke ich mit den Schultern. »Ich weiß von nichts.«

 Ilina mustert mich einen Moment, dann zuckt sie ebenfalls die Achseln. »Macht nichts, ganze Büro freut sich darüber.«

 »Wieso das denn?«

 »Weil Dürri hat ausgedruckt und an Wand gepinnt. ›Gebenedeit der Tag, der Mond, das Jahr‹, so fängt an, aber kann ich nicht weiter, muss ich immer schon lachen nach erste Zeile.«

 Ich verziehe den Mund. »Was ist das denn?«

 »Ach, ist doch nur Lyrik. Und anscheinend schon sehr alt.« Sie blickt auf die Uhr an der Ludwigskirche. »Ich muss rein. Bis Montag, Lucy! Freue mich, dass du wiederkommst.«

 

***

 

 

An diesem Morgen fällt der Blick von Kriminalkommissar Frank Kraus beim Betreten seines Büros auf den Schreibtisch, der dem seinen gegenüber steht und seit mehreren Wochen verwaist war. Jetzt steht eine blau blühende Topfpflanze darauf, und ein Stapel Aktenmappen liegt neben der Computertastatur. Dann entdeckt er die Snoopy-Tasse neben dem Bildschirm und weiß, wer sich hier eingerichtet hat: Tina Kunz, die im letzten Jahr noch darunter gelitten hat, dass sie als Kriminalkommissarin bisher nur zuarbeiten durfte. Jetzt erfüllt sich also endlich ihr Wunsch, und sie bildet mit Frank zusammen ein Ermittlerteam.

 Es hätte deutlich schlimmer kommen können: Mit Tina versteht er sich richtig gut, sie haben auch früher schon zusammengearbeitet, wobei sie immer die Arbeiten erledigt hat, die man vom Schreibtisch aus durchführen kann. Tina ist eine der wenigen Kolleginnen, die seine Sauklaue entziffern können, was sich besonders beim Berichte-Schreiben als echter Glücksgriff erwiesen hat.

 Frank setzt sich und schaltet seinen Computer ein, da kommt Tina herein. Sofort legt sich ein eifriges Lächeln auf ihr Gesicht, das ihm wieder einmal bewusst macht, wie viel jünger sie ist. Trotz ihrer fünfundzwanzig Jahre könnte sie auch noch als Teenager durchgehen. Aber, nun gut, sie ist nicht nur optisch so jung, sondern auch ihrer Lebensweise nach, was sich vielleicht noch als Vorteil entpuppen könnte. Tina ist viel fitter als er selbst in allen Dingen, die mit social networking zusammenhängen, und das ist nur ein positiver Aspekt. Ein weiterer ihrer Pluspunkte liegt darin, dass sie ein fotografisches Gedächtnis besitzt, was sich in der Vergangenheit schon einige Male als Tüpfelchen auf dem i erwiesen hat – auch im letzten Fall, den Frank noch mit Herbert zusammen gelöst hat.

 »Guten Morgen!« Sie stürmt auf ihn zu, sodass er sich unwillkürlich aus seinem Sitz erhebt, um ihre impulsive Umarmung entgegenzunehmen. Sie drückt ihn fest, so wie man es von Familienmitgliedern gewohnt ist — typisch für Tina. »Jetzt hast du mich an der Backe, Frank. Ich freue mich!«

 Er muss lachen, schiebt sie von sich und blickt in ihr koboldhaftes Gesicht. Tina erinnert ihn mit ihrer zerzausten Kurzhaarfrisur, deren Farbe alle paar Wochen wechselt, ein bisschen an Kat Schober, Lucys ›Rebellenschwester‹. »Herzlich Willkommen, Krümel!«

 Wie erwünscht, blitzen ihre Augen bei dem verhassten Namen auf. »Don’t call it  Krümel«, faucht sie, und er muss grinsen, weil sie ihren Tadel in eine Anspielung auf eine Fernsehwerbung für ein Toastschnitzel packt. Tina gleitet zu ihrem Schreibtisch und lässt sich auf den Stuhl fallen, dann greift sie zu der obersten Akte. »Wusstest du schon, dass wir Herbert beerben werden?«

 »Wie meinst du das?«, fragt er.

 »Du weißt ja, dass er, bevor er in Saarlouis arbeitete, bei der Sitte war?«

 »Achso, ja.« Er zieht die Nase hoch. »Wir bekommen die halbseidenen Fälle. Glücklicherweise gibt es davon hier ja nicht so viele.«

 »Hm, tja. Ich muss jedenfalls diese Akten nochmal durchgehen und erfassen, solange es für uns beide keinen neuen Fall gibt.«

 Frank tritt neben sie und blickt auf mehrere handschriftlich ausgefüllte Formblätter. Er erkennt Herberts kantige Schrift, die im Gegensatz zu seiner wenigstens leserlich ist – wahrscheinlich auch der Grund, weshalb diese Formulare noch nicht digital erfasst sind. Er verzieht den Mund. »Das bedeutet dann wohl, dass ich den Bericht zu meinem letzten Fall selbst schreiben muss …?«

 Tina lacht auf. »Ja, das bedeutet es.« Sie sieht zu ihm hoch und zwinkert. »Wollen wir hoffen, dass das Telefon bald klingelt und ich«, ihre Augen strahlen, »mit dir zu unserem ersten gemeinsamen Fall gerufen werde.« Sie reibt sich die Hände. »Ich kann es kaum erwarten. Endlich raus auf die Straße!«

 »Da bin ich ganz bei dir. Auf eine gedeihliche Zusammenarbeit, Krümel!« Feixend biegt er sich zur Seite, um dem Wurfgeschoss auszuweichen, das sie in seine Richtung feuert. Erst als er sich gleich darauf bückt, um das Ding vom grauen Büroteppich aufzuheben, erkennt er, was es ist: ein Kronkorken von der Biersorte, die Herbert gerne zum Feierabend getrunken hat.

 Er wirft ihn in den Papierkorb unter seinem Tisch. »Wollen wir hoffen, dass unser erster Fall ganz geradlinig wird und nichts mit Lucy zu tun hat!«

 Tina sieht ihn stirnrunzelnd an, dann kichert sie. »Na, deine Freundin war jetzt zweimal hintereinander in Morde verwickelt, irgendwann muss ja auch mal Schluss sein.«

 »Dein Wort in Gottes Hörrohr.«

 Sie grinsen sich einvernehmlich über die Schreibtische hinweg an, dann vertiefen beide sich in den Schreibkram. Nach einer halben Stunde wird Frank bewusst, dass er diese neue Konstellation mag. So sehr er Herbert bis zu seinem Fehltritt letztes Jahr als Kumpel gesehen hat, ist Tinas Anwesenheit doch viel unkomplizierter. Heimlich nimmt er sich vor, ihren Wunsch zu respektieren und sie in Zukunft nicht mehr Krümel zu nennen. Sie hat ihr Studium mit deutlich besseren Noten abgeschlossen als er selbst und verdient Respekt dafür. Und noch etwas beschließt er in dieser Sekunde: Es ist an der Zeit, auf den nächsten Schritt in seiner Karriere hinzuarbeiten. Umso mehr, als er bald Vater von Zwillingen wird.